Mit dem 9. April jährt sich ein Besuch des ehemaligen britischen Premiers Boris Johnson bei Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew. Nach Einschätzung namhafter Beobachter war diese Visite von maßgeblicher Bedeutung für das Scheitern der Friedensverhandlungen zwischen Kiew und Moskau im Frühjahr 2022. Beteiligte berichten im Wesentlichen übereinstimmend: Eine vorläufige Einigung zwischen Russland und der Ukraine schien zumindest in Reichweite.

29. März 2022: Präsident Erdogan begrüßt die Delegationen aus Russland und aus der Ukraine zu Verhandlungen in Istanbul.APA/AFP/TURKISH PRESIDENTIAL PRESS SERVICE/Murat CETIN MUHURDAR

Die Umrisse des Abkommens standen bereits fest

Laut dem US-Journal „Foreign Affairs“ standen die Umrisse des Übergangsabkommens bereits fest: „Russland würde sich auf die Position vom 23. Februar zurückziehen … . Und im Gegenzug würde die Ukraine versprechen, keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien von mehreren Ländern erhalten.”

Der Deal war in der Türkei ausgehandelt worden, auch Israel fungierte als Vermittler. Zur Klärung der restlichen Territorialfragen – Donbas und Krim – hätten sich die Präsidenten Selenskyj und Putin persönlich treffen sollen, da es hier um Fragen von Verfassungsrang ging. Doch das geplante Treffen fand nie statt. Ein wesentlicher Grund: Premier Johnson redete es Selenskyj bei seinem Kiew-Besuch aus.

Noch vor der Invasion hatte der Westen Selenskyj empfohlen, aus dem Land zu fließen. Nun riet er ihm, weiterzukämpfen.APA/AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE/Foto von Stringer

Die westliche Politik schweigt bis heute dazu, die meisten Medien ebenfalls. Einzelne Medien haben versucht, dieses Narrativ als unglaubwürdig darzustellen. Der eXXpress zitiert zum Jahrestag einige Berichte über die damaligen Ereignisse und Johnsons Kiew-Besuch – um etwas Licht auf das zu werfen, was damals tatsächlich geschehen ist.

Ukraine: Boris Johnson tauchte fast ohne Vorwarnung auf

Die ukrainische Online-Zeitung „Ukrainska Pravda“ berichtete am 5. Mai 2022, einen Monat nach Johnsons Besuch: Bei den Gesprächen zwischen der ukrainischen und der russischen Delegation kurz nach Beginn der Ukraine-Invasion seien Fortschritte erzielt worden. Die Ukraine sei vorerst „bereit, der NATO nicht beizutreten“, ebenso sei die russische Delegation unter Leitung des Ex-Ministers Wladimir Medinskij, der auch der russische Milliardär Roman Abramowitsch angehörte, „bereit für das Treffen Selenskyj-Putin“ gewesen.

Putin und Selenskyj trafen sich nicht, der Krieg geht weiter. Damit besteht nach wie vor die Gefahr einer Eskalation.APA/GETTY

Doch zwei Dinge geschahen, die Kiews Haltung änderten. Das erste war die Enthüllung der Gräueltaten in Bucha. „Das zweite ‚Hindernis‘ für Vereinbarungen mit den Russen traf am 9. April in Kiew ein. Kaum hatten sich die ukrainischen Unterhändler und Abramowitsch/Medinskij in groben Zügen auf die Struktur eines möglichen künftigen Abkommens geeinigt, erschien der britische Premierminister Boris Johnson fast ohne Vorwarnung in Kiew.“

Die Bilder der Leichen in Bucha erschwerten ebenfalls die Verhandlungen.Narciso Contreras/Anadolu Agency via Getty Images

Kiew stellte sich erstmals auf eine mögliche Niederlage Russlands ein

Er habe zwei einfache Botschaften übermittelt. Die erste lautete: „Putin ist ein Kriegsverbrecher, man muss ihn unter Druck setzen, nicht mit ihm verhandeln.“ Die zweite: Selbst wenn die Ukraine bereit ist, Vereinbarungen über Garantien zu unterzeichnen, sei das der Westen keineswegs. Einem Mitarbeiter Selenskyjs zufolge sah der kollektive Westen auf einmal die Chance, Putin „unter Druck zu setzen“.

Drei Tage nach Johnsons Abreise nach Großbritannien ging Putin an die Öffentlichkeit und erklärte, die Gespräche mit der Ukraine seien „in eine Sackgasse geraten“. Nach Angaben der „Ukrainska Pravda“ wurde der bilaterale Verhandlungsprozess wenig später unterbrochen.

Johnson überbrachte Selenskyj zwei Botschaften, heißt es.APA/AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE/Foto von Stringer

Das Online-Medium zitierte auch eine Person aus dem inneren Kreis von Selenskyj: „Hätte man uns am ersten Tag des Krieges die Möglichkeit gegeben, die gleiche Version des Friedensabkommens wie jetzt zu unterzeichnen, hätten wir das ohne zu zögern getan.“ Nun sei die Ukraine erstmals dazu übergegangen, „sich die Konturen einer künftigen Niederlage Russlands vorzustellen.“

Einen Monat später sprach Boris Johnson mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron über seinen Besuch in Kiew. Dabei „teilte er seine Überzeugung mit, dass die Ukraine mit dem richtigen Maß an militärischer Verteidigungshilfe gewinnen wird. Er warnte eindringlich vor Verhandlungen mit Russland über Bedingungen, die der falschen Darstellung des Kremls über die Invasion Glaubwürdigkeit verleihen würden“.

„Für einige NATO-Staaten ist es besser, wenn die Ukrainer weiter kämpfen und sterben“

Schon vor Johnsons Besuchs hatte sich Skepsis innerhalb der NATO bezüglich einer Einigung mit Moskau breit gemacht. Am 5. April warnte die „Washington Post“: „Die Entscheidungen Kiews – und etwaige Zugeständnisse von Präsident Wolodymyr Selenskyj – werden mit darüber entscheiden, ob der Kreml gezüchtigt oder gestärkt wird“. NATO-Staaten, die an Russland grenzen, fürchteten ein Entgegenkommen Kiews gegenüber Putin.

„Einige europäische Länder, vor allem ehemals kommunistische Länder mit bitteren Erinnerungen an die russische Invasion und Besatzung, sind besonders nervös, was die weitere Entwicklung des Konflikts angeht, da sie sich als nächste auf der Zielliste des Kremls sehen.“ Somit seien „die Ukrainer in einen umfassenderen Kampf im Namen Europas verwickelt“, erklärten damals Personen aus der NATO.

Auf einmal ging es einigen NATO-Staaten nicht mehr nur um die Ukraine.APA/AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE/Foto von Stringer

Dann folgt die bemerkenswerte Feststellung: „Selbst ein ukrainisches Versprechen, nicht der NATO beizutreten – ein Zugeständnis, das Selenskyj öffentlich ins Spiel gebracht hat – könnte einigen Nachbarn Sorgen bereiten. Das führt zu einer unangenehmen Realität: Für einige in der NATO ist es besser, wenn die Ukrainer weiter kämpfen und sterben, als einen Frieden zu erreichen, der zu früh kommt oder zu einem zu hohen Preis für Kiew und das übrige Europa.“

Auf einmal geht es nicht mehr nur um die Ukraine: Washington ändert seine Ziele

Ende April, mehr als zwei Wochen nach Johnsons Besuch in Kiew, erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin laut mehreren Medien: Eines der Ziele der USA bei der Unterstützung der Ukraine bestehe darin, „Russland so weit zu schwächen, dass es die Dinge, die es mit der Invasion der Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann.“ Dazu kommentierte der Guardian: „Die Russland-Äußerungen des Pentagon-Chefs zeigen eine Verschiebung der erklärten Ziele der USA in der Ukraine.“ Sie „deuteten darauf hin, dass die USA und ihre Verbündeten selbst dann, wenn sich die russischen Streitkräfte aus dem ukrainischen Gebiet, das sie seit dem 24. Februar besetzt halten, zurückziehen oder vertrieben werden, versuchen würden, die Sanktionen aufrechtzuerhalten, um Russland daran zu hindern, seine Streitkräfte wieder aufzustellen.“

US-Verteidigungsminister Austin schilderte neue Zielsetzungen: Nun geht es um Russland.

Man überlege offensichtlich, ob „man die Gelegenheit von Wladimir Putins strategischem Fehltritt in der Ukraine nutzen sollte, um zu versuchen, seine Fähigkeit, andere Länder in Zukunft zu bedrohen, zu behindern.“ Zitiert wird auch Rajan Menon, der Direktor des Programms für Strategie bei der Denkfabrik „Defense Priorities“: „Das Argument scheint nun zu sein, dass es nicht nur um die Ukraine geht, sondern um ein größeres Problem, nämlich die Bedrohung, die Russland für Europa als Ganzes darstellt. Und wenn man das so sieht, dann ergeben diese Kommentare einen Sinn.“

Türkei: Einigen ist die Ukraine egal, sie wollen nur, dass Russland schwächer wird

Die beiden Vermittler der Friedensgespräche – Türkei und Israel – waren über diesen Verlauf der Dinge nicht erfreut. „Nach den Gesprächen in Istanbul hätten wir nicht gedacht, dass der Krieg so lange dauern würde“, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, nachzulesen etwa am 21. April 2022 in den „Hürriyet Daily News“: „Doch es gibt diejenigen, die wollen, dass dieser Krieg weitergeht“, fährt der Minister fort. „Nach dem Treffen der NATO-Außenminister hatte man den Eindruck, dass es innerhalb der NATO-Mitgliedsstaaten diejenigen gibt, die wollen, dass der Krieg weitergeht und Russland schwächer wird. Ihnen ist die Situation in der Ukraine ziemlich egal.“ Çavuşoğlu unterstrich, die Ukraine dürfe „nicht als eine Arena des Wettbewerbs“ betrachtet werden.

Einige NATO-Staaten ist die Ukraine egal, findet Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu. Sie betrachten die Ukraine als Arena des Wettbewerbs.APA/AFP/Adem ALTAN

Im März hatte sich Çavuşoğlu noch optimistisch geäußert: Russland und die Ukraine hätten „fast eine Einigung“ über kritische Punkte eines möglichen Friedensabkommens erzielt. Beide hätten erhebliche Fortschritte erzielt, etwa mit Blick auf die Neutralitätserklärung Kiews und den Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft, sowie die Aufhebung von Beschränkungen für den Einsatz der russischen Sprache in der Ukraine.

US-Außenminister Blinken und sein russischer Amtskollege Lawrow: Russland soll geschwächt werden.APA/AFP

Israels Ex-Premier Bennett: Ich fand, dass sie falsch lagen

Anfang Februar 2023 äußerte sich im Rückblick auch der israelische Ex-Premier Naftali Bennett in einem Video-Interview über die gescheiterten Gespräche zwischen Kiew und Moskau – der eXXpress berichtete. Demnach waren Putin und Selenskyj nach Beginn der Ukraine-Invasion zum Einlenken bereit. Doch westliche Politiker hätten eine Einigung verhindert, allen voran der britische Premier Boris Johnson. Der Grund: Der Kampf gegen Putin hatte Priorität. Er sollte unbedingt fortgesetzt werden, selbst wenn dabei die Zerstörung der Ukraine voranschreitet.

Bennett sieht die Vorgangsweise des Westens kritisch – vor allem angesichts des Zerstörungen und des Blutvergießens in der Ukraine.Screenshot/YouTube

Zuvor habe die russische Seite die sogenannte „Entnazifizierung“ als Voraussetzung für einen Waffenstillstand fallen gelassen. Dabei definierte Bennett „Entnazifizierung“ als Entfernung Selenskyjs. Die westlichen Staats- und Regierungschefs seien diesen Vermittlungsbemühungen offensichtlich unterschiedlich gegenübergestanden. Vor allem Boris Johnson habe „eine aggressive Linie“ vertreten. „Ich denke, es war eine legitime Entscheidung des Westens, Putin weiterhin zu schlagen und nicht zu verhandeln”, erklärte Bennett. Auf die Frage, ob die Westmächte die Vermittlungsbemühungen „blockiert” hätten, antwortete der Ex-Premier: „Im Grunde genommen ja. Sie haben es blockiert, und ich fand, dass sie falsch lagen.“

Das Blutvergießen in der Ukraine geht weiter

Fazit: Seit einem Jahr wird der Kampf, das Blutvergießen, die beispiellose Zerstörung in der Ukraine fortgesetzt. Die Zahl der gefallenen Soldaten wird auf der ukrainischen Seite geheim gehalten. Vor allem eines ist zurzeit ungewisser denn je: Ob die Ukraine am Ende dieses entsetzlichen Kriegs etwas Besseres für sich herausholen kann, als das, was jener gescheiterte Deal ein Jahr zuvor vorgesehen hat.