Noch wenige Monate vor Ausbruch der Corona-Pandemie war sich die wissenschaftliche Community einig: Lockdowns sind zur Bekämpfung von Pandemien nicht sinnvoll. Mit Beginn der Covid-Krise hat sich das aber schlagartig geändert, allerdings ohne neue wissenschaftliche Beweise. So lautet zumindest der scharfe Vorwurf, den die zwei Wissenschaftler Phillip W. Magness und Peter C. Earle erheben. Sie haben darüber kürzlich im “Wall Street Journal” geschrieben. Freilich sind die beiden Ökonomen vom “American Institute for Economic Research”, und nicht Virologen, aber sie berufen sich auf zahlreiche Befunde und epidemiologische Studien – unter anderem der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

WHO: Simulationsstudien sind kaum aussagekräftig

Das Urteil der beiden US-Autoren: “Unsere Reaktion auf die Pandemie, die auf Abriegelungen und eng damit verbundenen ‘nicht-pharmazeutischen Interventionen’ (NPI) beruhte, stellte eine beispiellose und ungerechtfertigte Veränderung der wissenschaftlichen Meinung dar, die wenige Monate vor der Entdeckung von Covid-19 noch herrschte.” Gestützt auf historischen Analyse von Pandemien, die schwerwiegenden sozioökonomische Kosten von Lockdowns und ihren fast ausschließlich spekulativen Nutzen sei die Wissenschaft  solchen Maßnahmen gegenüber ablehnend gewesen.

Die WHO habe sich vor dem März 2020 noch entschieden gegen Abriegelungen und ähnliche Maßnahmen gegen Infektionskrankheiten ausgesprochen. Ein Jahr zuvor, im März 2019, erklärte die WHO etwa bei einer Konferenz in Hongkong: “Hausarrest für nicht erkrankte Kontaktpersonen einer Person mit nachgewiesener oder vermuteter Influenza” sei nicht sinnvoll. “Die meisten der derzeit verfügbaren Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Quarantäne bei der Influenzakontrolle stammen aus Simulationsstudien, die eine geringe Aussagekraft haben”. Deshalb wird eine groß angelegte häusliche Quarantäne “nicht empfohlen, da es keine offensichtliche Begründung für diese Maßnahme gibt”.

John Hopkins: "Die am wenigsten wirksame Maßnahme"

Zu einem negativen Ergebnis kam auch im September 2019 der Bericht des Zentrums für Gesundheitssicherheit der Johns Hopkins University: “Im Zusammenhang mit einem hochwirksamen Atemwegserreger ist die Quarantäne aufgrund der hohen Übertragbarkeit möglicherweise die am wenigsten wirksame Maßnahme zur Eindämmung der Ausbreitung.” Dies gelte insbesondere für ein sich schnell über die Luft ausbreitendes Virus wie es das – damals noch unentdeckte – Sars-CoV-2 ist.

Die Spanische Grippe: Militärnotfallkrankenhaus während der Spanischen Grippe in Kansas.Wiki Commons

Eine separate WHO-Studie aus dem Jahr 2006 erklärte: “Erzwungene Isolierung und Quarantäne sind ineffektiv und unpraktisch”. Dabei stützte sie sich auf Erkenntnisse aus der Spanischen Grippe-Pandemie von 1918. Sie verwies auf etwa Edmonton, Hauptstadt der kanadischen Provinz Alberta, wo “öffentliche Versammlungen verboten, Schulen, Kirchen, Hochschulen, Theater und andere öffentliche Versammlungsorte geschlossen und die Geschäftszeiten eingeschränkt wurden, ohne dass dies offensichtliche Auswirkungen auf die Epidemie hatte”.

Medizinhistoriker Barry: Quarantäne funktioniert nicht

Gestützt auf eine Analyse der Spanischen Grippe in den USA aus dem Jahr 1927 kam die Studie zu dem Schluss, dass Abriegelungen “in städtischen Gebieten nicht nachweislich wirksam waren”. Nur in abgelegenen ländlichen Gebieten, “wo die Zahl der Gruppenkontakte geringer ist”, sei diese Strategie theoretisch durchführbar, aber diese Hypothese wurde nicht getestet.

Stille in Wuhan während des Lockdowns: keine Autos, keine MenschenAPA

Der Medizinhistoriker John Barry, der den Standardbericht über die Spanische Grippe von 1918 verfasst hat, erklärte Quarantänemaßnahmen ebenfalls für unwirksam: “Historische Daten zeigen eindeutig, dass Quarantäne nicht funktioniert, es sei denn, sie ist absolut rigide und vollständig”, schrieb er 2009. Dabei fasste er die Ergebnisse einer Studie über Influenzaausbrüche auf US-Armeestützpunkten während des Ersten Weltkriegs zusammen.

Ein Team von Johns Hopkins kam schon 2006 zu der Schlussfolgerung: Es konnten “keine historischen Beobachtungen oder wissenschaftlichen Studien” gefunden werden, die die Wirksamkeit einer groß angelegten Quarantäne belegen. Und: “Die negativen Folgen einer groß angelegten Quarantäne sind so extrem . . . dass diese Abhilfemaßnahme nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden sollte”.

Modell des Imperial College London brachte die Wende

Damit bleibt nur die Frage, warum sich diese Einschätzung der Wissenschaft ab März 2020 geändert hat. Den beiden Ökonomen zufolge stammte die Strategie der Abschottung aus denselben Quellen, die die WHO in ihrem Bericht von 2019 scharf kritisiert hat. “Die empirischen Beweise haben sich nicht geändert”, konstatieren die beiden Wissenschaftler.

Einen wesentlichen Einfluss auf die geänderte Haltung zu Lockdowns habe ein Modell des Imperial College London gehabt. Im April 2020 würdigte die Fachzeitschrift Nature das Team des Imperial College unter der Leitung von Neil Ferguson. Es hätte eine der wichtigsten Computersimulationen zu Covid-19 entwickelt. Demnach würden katastrophale Opferzahlen für eine “ungemilderte” Pandemie folgen. Fergusons Modell versprach, Covid-19 durch strengere NPI-Maßnahmen unter Kontrolle zu bringen.

Solche Szenen erlebten wir in Wien mehrmalsAPA/HERBERT NEUBAUER

“Ferguson erstellte sein Modell, indem er ein jahrzehntealtes Grippemodell wiederverwendete, das in seinen wissenschaftlichen Annahmen deutliche Mängel aufwies”, behaupten nun Phillip W. Magness und Peter C. Earle. So fehlte etwa die Möglichkeit, “die Ausbreitung des Virus in Pflegeheimen abzuschätzen”. Man habe die Leistung von Imperials Covid-19-Vorhersagen in 189 verschiedenen Ländern am ersten Jahrestag ihrer Veröffentlichung, dem 26. März 2021, bewertet. Das Ergebnis: “Kein einziges Land erreichte die vorhergesagten Sterblichkeitsraten des Modells”. Selbst Fergusons radikalstes Modell, das von einer strikten Abriegelung ausging, die alle öffentlichen Kontakte über ein Jahr lang um 75 Prozent einschränkt, sagte mehr Todesfälle voraus, als in 170 von 189 Ländern eintraten.

Warum die Gesundheitsbehörden dennoch so gehandelt haben und es bis heute tun, können die beiden Forscher nicht überzeugend begründen.