Sollte sich die stark erhöhte Inflationsrate im kommenden Jahr verfestigen, könnten die Null- und Negativzinsen der EZB zur “politischen Zeitbombe” werden, warnt Norbert F. Tofall, Senior Research Analyst der Denkfabrik Flossbach von Storch Research Institute. Dann sei schon bald mit starken Spannungen im Euro-Raum zu rechnen.

EZB rechnet mit einem Rückgang der Inflation – in ihrem eigenen Interesse

Kürzlich räumte die EZB ein: Zwar würde die erhöhte Inflation länger anhalten als erwartet, doch schon im kommenden Jahr werde sie wieder sinken. Eine optimistische Prognose, möglicherweise eine zweckoptimistische, denn die EZB hat gute Gründe für diese Annahme – in ihrem eigenen Interesse. Sollten nämlich die Preise, anders als von der EZB prognostiziert, im Jahr 2022 weiterhin steigen, entstünden für die EZB ernsthafte Schwierigkeiten, ihre derzeitigen Maßnahmen glaubwürdig zu rechtfertigen.

Offiziell begründet die EZB ihre Politik mit ihrem Inflationsziel. Demnach strebt sie eine jährliche Teuerungsrate von zwei Prozent an. Dass er der EZB bei ihrer Geldpolitik im Kern tatsächlich um die Inflationshöhe geht, zweifeln kritische Beobachter schon lange an. Doch nun, da die Inflation in neue Höhen steigt, droht diese Rechtfertigung bald vollends unglaubwürdig zu werden. Bei anhaltend höherer Inflation müsste die EZB nämlich die Zinsen anheben und ihre Anleihekaufprogramme beenden. Doch das wird sie voraussichtlich nicht tun, meint Tofall.

Der Sonnenuntergang spiegelt sich in der EZB wider: Könnte sich die Lage bald verfinstern?APA/dpa/Boris Roessler

Selbst bei moderaten Zinserhöhungen droht in Italien ein Staatsbankrott

In ihrer letzten Sitzung beließ die EZB die Leitzinsen unverändert auf ihrem niedrigen Niveau und sah auch weiterhin Bedarf für ihre Anleihekaufprogramme. Sie setzte ihre ultralockere Geldpolitik also unverändert fort. Dabei lag die Inflationsrate des Euroraums schon im September bei 3,4 Prozent und in Deutschland bei 4,1 Prozent. Noch in diesem Jahr könnte sie in Deutschland auf über 5 Prozent steigen. Doch falls diese Inflationsrate im kommenden Jahr anhält, wird dann die EZB “wirklich die Leitzinsen deutlich erhöhen und das auf ein Niveau, sodass man von einer Zinswende, die diesen Namen auch verdient, sprechen kann?”, fragt Tofall. Antwort: “Wohl kaum.” Die EZB werde möglichst lange eher deutlich höhere Inflationsraten zulassen, als die Zinsen zu erhöhen, denn das würde die gesamte Eurozone unter Druck setzen – womit wir beim eigentlichen, unausgesprochenen Kern der Geldpolitik der EZB wären.

Norbert Tofall unterstreicht: “Bereits nur moderate Zinserhöhungen könnten die Schuldentragfähigkeit der meisten EU-Mitgliedsstaaten sofort belasten. Und eine Zinswende, die diesen Namen auch verdient, dürfte die Schuldentragfähigkeit einiger EU-Mitgliedstaaten wie beispielsweise Italien sogar sprengen. Dass ein italienischer Staatsbankrott Auswirkungen auf die ganze Eurozone hätte, liegt auf der Hand. Die EZB hat in den letzten Jahren alles unternommen, um ein Herausbrechen von Italien aus der Eurozone zu verhindern. Aber auch Frankreichs Schuldentragfähigkeit würde bereits bei moderaten Zinserhöhungen enorm belastet werden.”

Herzlich waren die Beziehungen zwischen dem ehemaligen EZB-Chef und jetzigem italienischen Premierminister Mario Draghi und Kanzlerin Angela Merkel. Doch schon bald könnte die Spannungen wachsen.APA/AFP/Alberto PIZZOLI

Es drohen Unglaubwürdigkeit der EZB und massive Spannungen der Euro-Zone

Ein italienischer Staatsbankrott bliebe der EU dann erspart, dennoch berge die Vorgangsweise der EZB politische Risiken, wie der Analyst unterstreicht. “Einerseits verringert die Schönfärberei der Inflationsaussichten die Glaubwürdigkeit der EZB.” Schon bald könnte das Gerede von einer jährlichen Preissteigerung von durchschnittlich zwei Prozent endgültig unglaubwürdig und damit obsolet sein. Doch das ist nicht das einzige Risiko, wie Tofall festhält.

Die Bereitschaft, höhere Inflationsraten in Kauf zu nehmen, sei in den EU-Mitgliedsländern nämlich sehr unterschiedlich stark ausgeprägt: “Die bisherigen Interessenunterschiede zwischen fiskalpolitisch solideren Nord-Euroländern und fiskalpolitisch unsolideren Süd-Euroländern dürften sich verstärken.” Euro-Austrittsdrohungen könnten bald wieder zur Tagespolitik gehören. Rechts- wie linkspopulistische Parteien dürften neuen Zulauf erhalten und die Spannungen innerhalb der Euro-Zone weiter wachsen. “Die Inflation dürfte der Haupttreiber dieser Entwicklung sein.”

Null- und Negativzinsen bei eine deutlich erhöhten Inflation haben langfristig Sprengkraft

Anders als die EZB hält Tofall eine sich verfestigende Inflation für wahrscheinlicher. Um Gelbwesten-Proteste wie in Frankreich zu vermeiden, dürften bald massive Markteingriffe wegen der hohen Energiepreise vorgenommen werden. Vor allem aber: “Wenn die Inflation sehr niedrig ist, dann sind für die Menschen Null- und Negativzinsen schon ärgerlich. Wenn die Inflation aber deutlich über längere Zeiträume steigt, dann können Null- und Negativzinsen zur politischen Zeitbombe in den einzelnen EU-Mitgliedsländern werden. Die hohen Inflationsraten sind für die EZB zwar noch kein Gamechanger, politisch könnte sich das Spiel in der EU jedoch schneller ändern, als es der EZB lieb ist.”

Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) kritisiert die ultralockere Geldpolitik der EZB.APA/GEORG HOCHMUTH

Scharfe Kritik erntete die ultralockere Geldpolitik der EZB erst kürzlich in Österreich. Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) unterstrich: “Manche EU-Staaten haben so hohe Schulden, dass sie höhere Zinsen nicht stemmen können. Der Vorwurf ist nicht unberechtigt, dass die EZB wegen dieser Staaten die Zinsen nicht erhöht. Das wäre aber Verrat an den Europäern.”