Wenn Versagen das neue Siegen ist, läuft in unserer Gesellschaft etwas gewaltig schief. Applaus erhält man dieser Tage weniger, wenn man mutige Schritte im Kampf gegen die Pandemie setzt, sondern eher man seine hochpersönliche Leidensgeschichte öffentlichkeitswirksam ausrollt. Und damit sind ausdrücklich nicht jene Ärzte und Pfleger gemeint, die monatelang auf den Intensivstationen bis zu ihrer Belastungsgrenze und darüber hinaus geleistet haben, sondern jene übersättigten Wohlstands-Wokisten, die es bereits als unzumutbare Belastung empfunden haben, zuhause zu sitzen und Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Deren enervierendes Gejammer war in sozialen Medien übergebührlich laut und lässt Zweifel aufkommen, wie der Aufbruch und Neustart mit einer Gesellschaft gelingen soll, die sich schon vom Nichtstun ausgebrannt fühlt.

Haltungsjournalisten haben eine Diktatur der Gefühle errichtet

Überhaupt sind Gefühle immer mehr zum Parameter geworden und verdrängen auf diese Weise wichtige Eigenschaften wie Faktizität und Erfahrung. Jeder muss auf die Gefühle eines jeden Rücksicht nehmen und jede noch so kleine Minderheit beansprucht für sich die Deutungshoheit im Kampf um das maximal erlittene Trauma.

Eine Entwicklung, die sich leider auch immer mehr im Journalismus niederschlägt. Dort gibt es seit geraumer Zeit eine wachsende Bewegung von sogenannten “Haltungsjournalisten”, die sich vorrangig in den geschützten und üppig finanzierten öffentlich-rechtlichen Medienanstalten tummeln und dort mit ihrer Gefühls-Diktatur redliche Kollegen unterjochen. Denn gegen ihre per Haltung verliehene Übermacht kann kaum argumentiert werden – selbst nackte Fakten haben sich ihrer Moral zu beugen. Eine kritische Geschichte über eine weibliche Politikerin? Das ist Sexismus! Ein Asyl-Versagen der Behörden? Das hilft nur der AfD! Linksextremismus ist auf dem Vormarsch? Die Rechten sind schlimmer!

In Deutschland wäre der ORF-Kollege mit seiner Frage durchgekommen

Was jetzt vielleicht beim Lesen polemisch klingen mag, ist leider näher an der Wahrheit als viele Journalisten es offen zugeben möchten. Der Satz “Das hilft nur der AfD” ist überhaupt zu einem derartigen Totschlag-Argument verkommen, der jeden seiner Nutzer als das entlarvt, was er er eigentlich ist: Ein Aktivist und kein Journalist. Denn uns als Journalisten sollte es in erster Linie vollkommen gleichgültig sein, ob irgendeine unserer Enthüllungen von der vermeintlich falschen Seite schändlich instrumentalisiert werden könnte – wir sind primär der Wahrheit verpflichtet und nicht dem Gefühl.

Tatsächlich ist der Haltungsjournalismus aber eher ein deutsches Phänomen, das glücklicherweise den österreichischen Journalismus noch nicht derart vergiftet hat. Bestes Beispiel: Diese Woche wollte sich ein ORF-Redakteur bei einer Pressekonferenz zum Mordfall an der kleinen Leonie moralisch aufspielen, indem er in einer Frage an den Innenminister suggerierte, dass es sich bei den brutalen Tätern ja nur um “traumatisierte” Minderjährige handeln könnte, die einfach nicht ausreichend betreut worden sind. Im anschließenden Shitstorm ruderte der Redakteur zurück und entschuldigte sich für seine Frage. In Deutschland wäre er damit vermutlich durchgekommen. Und jeder, der es gewagt hätte, ihn zu kritisieren, wäre umgehend in den Verdacht der rechten Hetze geraten.

Berechtigte Kritik wird als "rechtes Geraune" abgetan

Denn Deutschlands Linke ist bisweilen erbarmungslos, wenn es darum geht, ihre Kritiker zu diskreditieren und mundtot zu machen. Als vor einigen Wochen der Salzburger Plagiatsjäger Stefan Weber und verschiedene Blogger erstmals auf Ungereimtheiten in Annalena Baerbocks Lebenslauf hingewiesen haben, wurden ihre – wie sich später herausgestellt hat – vollkommen berechtigten Einwände anfänglich von den Grünen und linken Medien als “rechtes Geraune” oder “Verschwörungserzählungen” abgetan. Erst als die Beweislast entsprechend erdrückend war, räumte man scheibchenweise Fehler ein. Baerbock hätte damals eigentlich schon zurücktreten müssen. Nicht unbedingt, weil sie ihren Lebenslauf frisiert hatte, sondern wegen des Umgangs mit der Kritik. Das Image als Sauberfrau hatte Schrammen und wenn sich eine Partei schon laufend als oberste moralische Instanz aufspielen muss, sollte sie auch strenge Maßstäbe an sich selbst anlegen.

Merz wurde für weit weniger heftiger kritisiert

Dieser Tage wiederholt sich dieses peinliche Schauspiel: Weber hat auf Plagiate in Baerbocks Buch hingewiesen und geriet prompt ins Visier. Angeblich habe er geheime Auftraggeber im Hintergrund, es gäbe eine Kampagne gegen Baerbock, weil sie eine Frau ist. Verschwörung, Verschwörung. Glücklicherweise lassen sich viele Medien diesmal nicht mehr täuschen und schauen – anders als das bei den ersten Enthüllungen zur Vita der Fall war, wo nur wenige anfänglich berichtet haben (darunter auch der eXXpress) – jetzt genauer hin. Weber ist nun allgegenwärtig und transparent und das immunisiert ihn auch gegen Schmutzkampagnen. Denn natürlich sind linke Leistungsfeinde schon zur Stelle, die versuchen, die Kritik an Baerbock als Sexismus zu abzuwerten.

Das Argument ist freilich vorgeschoben. Als der CDU-Spitzenpolitiker Friedrich Merz einem obdachlosen Mann damals sein Buch geschenkt hat, haben Linke diese freundliche Geste sofort in den Schmutz gezogen. Der eine verschenkt ein Buch und wird beschimpft. Die andere bedient sich frech für ihr Buch bei anderen Autoren und soll unterm Strich das Opfer sein? Das ist an Doppelmoral kaum zu überbieten. Ich bin eine Frau – sowohl den Fakten als auch den Gefühlen nach – und bin daher zumindest frei(er) vom Sexismus-Verdacht. Daher fordere ich stellvertretend: Frau Baerbock, machen Sie endlich Platz für jemanden, der dieser Aufgabe wirklich gewachsen ist. Es geht um nicht weniger als die Zukunft Deutschlands.

Anna Dobler ist eine mehrfach ausgezeichnete, ausgebildete und studierte Journalistin und Kolumnistin. Nach beruflichen Stationen in Berlin, München, Italien und Salzburg, lebt und arbeitet sie mittlerweile in Wien. Auf Twitter setzt sich @Doblerin ein für freie Märkte und freie Meinung.