Während die Streiks in den französischen Raffinerien abflauen, weiten sich jene in den Atomkraftwerken aus. Erste Arbeitsniederlegungen im grössten AKW-Park Europas begannen schon im September, erhielten aber zunächst kaum Beachtung. Viele Reaktoren waren nämlich bereits wegen Wartungsarbeiten und Pannen abgeschaltet. Die Folge der wachsenden Eskalation ist Frankreichs schlimmste Energiekrise seit den 1970er Jahren.

Beschäftigte des Kernkraftwerks Gravelines versammeln sich am 20. Oktober 2022 während eines Streiks vor dem Eingang.APA/AFP/Sameer Al-DOUMY

Wiederinbetriebnahme verzögert sich um Wochen

Zum einen macht die Korrosion an den Rohrleitungen, die für die Kühlung der Reaktorkerne benötigt werden, Paris zu schaffen. Die Behebung der Korrosion dauert bei mehreren Reaktoren länger als erwartet, so dass sich die Wiederinbetriebnahme um bis zu sechs Wochen verzögert, wie aus Unterlagen der Aufsichtsbehörden hervorgeht.

Hinzu kommen Streiks in 18 Reaktoren der Électricité de France (EDF SA), Frankreichs staatlich kontrolliertem Energieriesen. Sie haben die Wiederinbetriebnahme um mehrere Wochen verzögert und gefährden die Pläne der Regierung, alle Reaktoren bis zum Ende des Winters wieder ans Netz zu bringen.

An den Protesten in Frankreich nahmen 140.000 Menschen teil. Es wurde der Austritt Frankreichs aus der NATO gefordert. Linke und Gewerkschaften organisierten Proteste gegen steigende Lebenshaltungskosten, Inflation, EU und NATO.

Strommangel und Stromausfälle im Winter befürchtet

EDF, der weltweit größte Eigentümer von Kernkraftwerken, ist eines der wichtigsten Energieunternehmen in Westeuropa. Seine Reaktorflotte exportiert normalerweise große Mengen an kostengünstigem Atomstrom in die Nachbarländer und trägt so zur Stabilisierung der Preise in der gesamten Region bei.

Die Situation änderte sich in diesem Jahr drastisch, als Frankreich wegen der Ausfälle seiner Reaktoren von einem der größten Stromexporteure Europas zu einem Nettoimporteur wurde. Das Land muss bereits viel Elektrizität aus Deutschland einführen. Die Häufung der Ausfälle hat dazu geführt, dass die Behörden befürchten, dass Frankreich und die gesamte Region im Winter, wenn die Stromnachfrage in Europa ihren Höhepunkt erreicht, unter Strommangel leiden könnten. „Wir können nicht sicher sein, den Winter ohne Stromunterbrüche zu überstehen“, warnt Emmanuelle Wargon, die Vorsteherin der französischen Kommission für Energieregelung.

Enorme Verluste

Durch die Ausfälle musste EDF enorme Verluste hinnehmen, weil das Unternehmen gezwungen war, auf dem europäischen Großhandelsmarkt, wo die Preise in die Höhe geschnellt sind, Ersatzstrom zu kaufen, um ihn zu viel niedrigeren Preisen an die Endkunden zu verkaufen. Wenn die Reaktoren nicht rechtzeitig wieder ans Netz gehen, könnte es in Europa richtig ungemütlich werden.

Die französische Flagge neben einer Flagge mit dem Logo des französischen multinationalen Stromversorgers EDF am Eingang eines KernkraftwerksAPA/AFP/Sameer Al-DOUMY

Macron hat in diesem Jahr den Bau von sechs – langfristig sogar vierzehn – neuen EPR-Reaktoren bekannt gegeben. Zugleich will er die Genehmigungsverfahren für erneuerbaren Energieanlagen verkürzen. Im September hat er den ersten Offshore-Windpark Frankreichs in Betrieb genommen.