Was viele Menschen in ganz Europa schon vermutet haben, das belegen nun die „Lockdown Files“ des britischen „Daily Telegraph“: Für zahlreiche Covid-Entscheidungen waren politische Gründe und die Tipps von Kommunikationsberatern wichtiger, als wissenschaftliche Befunde. 100.000 Chat-Nachrichten des ehemaligen Gesundheitsministers Matt Hancock wurden dem „Daily Telegraph“ zugespielt. Sie liefern umfassenden Einblick in die interne Regierungskommunikation während der Pandemie.

Boris Johnsons Gesundheitsminister Matt Hancock jagte den Briten bewusst Angst ein, um sie von mehr Corona-Regeln zu überzeugen.APA/AFP/10 Downing Street/Andrew PARSONS

Die britische Regierung – und wohl nicht nur sie – handelte demnach oft aus politischen Motiven, gestützt auf äußerst geringe wissenschaftliche Evidenz. Besonders verstörend: Die Freude, mit der Politiker und Beamte die Bürger quälten, bestraften und mit Hilfe von wissenschaftlichen Studien ängstigten.

Mit dem „Angst/Schuld-Faktor“ wurde Druck ausgeübt

Hancock benützte wissenschaftliche Ergebnisse, um den Briten Angst einzujagen. Nur so konnte er einige Maßnahmen durchpeitschen. Im Juni 2020 freuten sich der Gesundheitsminister und sein wissenschaftlicher Berater: Eine „in eine positive Richtung weisende“ Studie wurde viel weniger beachtet als ihr „düsterer“ Gegenpart. Hancock frohlockte: „Wenn wir wollen, dass sich die Menschen benehmen, ist das vielleicht keine schlechte Sache.“ Dazu Vallace: „Sicher, sie saugen die miserable Interpretation auf und liefern mehr, als sie müssen.“

Boris Johnson beim Chatten.APA/AFP/JUSTIN TALLIS

Ein andermal erklärt Kabinettssekretär Simon Case: Um die Menschen dazu zu bewegen, noch mehr Regeln zu befolgen, „brauchen wir mehr Messaging – der Angst/Schuld-Faktor ist entscheidend“. Besonders wichtig wird das vor Weihnachten 2020: Am 13. Dezember warnte Medienberater Damon Poole den Gesundheitsminister: Scharfe Coronaregeln seien nur schwer durchzusetzen. Es formiere sich bereits Widerstand unter Tory-Abgeordneten. Das einflussreiche Boulevard-Blatt „Mail on Sunday“ habe die Regierung „gewarnt“.

Angstmache mit der Alpha-Variante

Doch Poole hatte eine Idee, wie man den Menschen mehr Angst einjagen kann – „mit der neuen Variante“. Hancock reagierte begeistert: „Wir erschrecken sie kräftig mit der neuen Variante.“ Und kurz darauf: „Wann setzen wir die neue Variante ein?“ Es handelt sich um die Alpha-Variante.

Boris Johnson (l.) hört bei einer Parlamentssitzung seinem Gesundheitsminister Matt Hancock zu.APA/AFP/PRU

Bemerkenswerterweise sind alle zurzeit verfügbaren Forschungsarbeiten dazu nicht älter als der 19. Dezember 2020. „Tichys Einblick“ kommentiert: „Und das war auch der Tag, als das britische Weihnachtsfest 2020 quasi abgesagt wurde, offenbar aufgrund bahnbrechender Erkenntnisse der Politik. War das eine Verschwörung von Politik und Forschern gewesen, wobei die letztgenannten hier eine Art Auftragsarbeit ablieferten?“

Für die Maskenpflicht an Schulen gab es keine wissenschaftlichen Argumente

Doch sämtliche Maßnahmen basierten nicht auf wissenschaftlichen Befunden. Einmal räumt ein Minister offen ein: Für die Beschränkung von sozialen Kontakten auf sechs Personen fehlt eine „robuste Logik“ – um eben diese Maßnahme dennoch zu beschließen.

Masken gehörten in der Pandemie zum Schultag. Wissenschaftlich begründbar war das nicht.APA/dpa/Gregor Fischer

Das gilt auch für die Maskenpflicht an Schulen, die österreichische Schüler ebenfalls über sich ergehen lassen mussten. Nach langem Hin und Her gelangten die wissenschaftlichen Berater in den Chats nämlich zum Schluss: Weder für noch gegen das Tragen der Masken in Gängen und Pausenräumen lägen belastbare Argumente vor. Premier Boris Johnson hat sich dennoch für die Einschränkung entschieden, allerdings aus rein politischen Gründen: Er wollte einen zu großen Kontrast zu dem scharfen Corona-Regime der schottischen Regionalpräsidentin Nicola Sturgeon vermeiden.

„Wie viele Menschen haben wir denn heute schon eingesperrt?“

Wer sich nicht an die Corona-Regeln hielt, musste teils mit drakonischen Strafen rechnen, an denen die politischen Entscheidungsträger sichtlich Freude hatten. Man müsse mit „harter Hand“ durchgreifen, um Lockdown-Sünder zu bestrafen, forderte einmal Hancock. Daraufhin musste ein aus Dubai heimgekehrtes Ehepaar 20.000 Pfund (22.434 Euro) zahlen, was Boris Johnson mit „wunderbar“ (!) kommentierte.

Boris Johnson nahm es selbst mit den Corona-Maßnahmen nicht so genau.APA/AFP/POOL/Leon Neal

In Entzücken geriet ein hoher Beamter wegen der Einführung von Quarantäne-Hotels an Flughäfen, in die Reisende aus bestimmten Ländern gesperrt wurden. „Ich will die Gesichter der Erstklasspassagiere sehen, die in einem Premier Inn Hotel in eine Schuhschachtel einquartiert werden“, bemerkte Johnsons Sekretär Simon Case. „Wie viele haben wir denn heute schon eingesperrt?“

Besonders gerne hätte die Regierung den Lockdown-Kritiker und Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage eins ausgewischt. Wegen seines mutmaßlich rechtswidrigen Besuchs in einem Pub, von dem Farage frech ein Video getwittert hat, wollte die Regierung den „einsperren“. Besonders brisant: Just zu dieser Zeit feierten die Regierungsbeamte in Downing Street 10 Partys, illegal. Das „Partygate“ sollte später auch Boris Johnson tatsächlich zum Verhängnis werden.

Journalistin spielte die Lockdown-Chats dem „Daily Telegraph“ zu

Die Journalistin Isobel Oakeshott hatte dem „Daily Telegraph“ die Lockdown-Chats zugespielt. Zuvor hatte sie als Ghostwriterin an Hancocks Memoiren mitgearbeitet und dabei Zugriff auf die Nachrichten erhalten. Trotz Schweigepflicht machte sie die Chatprotokolle öffentlich. Auch einer offiziellen Untersuchung zum Umgang mit der Corona-Pandemie wurden die Chat-Nachrichten zur Verfügung gestellt.

Oakeshott rechtfertigte ihr Vorgehen gegenüber den BBC: „Kein Journalist, der etwas auf sich hält, würde in so einer wichtigen und historischen Angelegenheit Informationen zurückhalten.“