Nach einer Woche des Rätselratens über die akademische Qualifikation von Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock kommt der deutsche Rechtswissenschaftler Wolfgang Lipps zu einem klaren Resümee: „Ich sehe einen Etikettenschwindel“, sagt er gegenüber dem eXXpress. „Baerbock stellt mit ihrem Titel ‚Master of Laws‘ etwas dar, was sie nicht ist. Ihr ganzer Werdegang erfüllt das nicht.“

"Nach unserem Verständnis keine Volljuristin"

Aufgrund des Titels von Baerbock und aufgrund Baerbocks eigener öffentlicher Stellungnahmen, mit denen sie ihre Qualifikation als „Völkerrechtlerin“ mehrfach unterstrichen hat, ist die Öffentlichkeit bisher davon ausgegangen, dass die Grünen-Kandidatin „Volljuristin“ mit Spezialisierung in Völkerrecht ist, doch dem ist eben nicht so, wie Lipps unterstreicht: „Sie hat an der London School of Economics (LSE) eine Masterarbeit zu einem bestimmten Gebiet des Völkerrechts – Konflikt und Gewaltanwendung – gemacht. Das ist auch alle Ehren wert. Nur hat sie sich damit nur mit einem Teilgebiet des Rechts befasst und ist nach unserem Verständnis keine Volljuristin.“

Wie mittlerweile bekannt ist, hat Baerbock, bevor sie zur LSE ging, an der Uni Hamburg Politische Wissenschaft studiert, und eben nicht Öffentliches Recht, das sie nur als Nebenfach hatte. Das stellte sich erst in der vergangenen Woche allmählich heraus, nachdem die Grünen zwei Mal den Lebenslauf Baerbocks änderten. Ebenso konnte sie das Studium in Hamburg nicht mit einem Magister oder Bachelor abschließen, wie zunächst angenommen, sondern hat dort lediglich das Vordiplom gemacht. Für den österreichischen Plagiatsjäger Stefan Weber war Baerbock daher „Studienabbrecherin“ als sie für das Masterstudium zur LSE wechselte.

Hadmut Danisch: Angaben sind unvollständig

Baerbock hat also ohne Bachelor einen Studiengang in Politikwissenschaft mit einem Vordiplom beendet und danach in einem Ein-Jahres-Seminar in England einen auf einen völkerrechtlichen Teilaspekt begrenzten Master erworben. Wolfgang Lipps – er hat selbst in Jus promoviert, anschließend noch den Postgraduate an der LSE gemacht und mehrere Lehrbücher und fachwissenschaftliche Aufsätze verfasst – unterstreicht: „Man ist auch kein Volljurist, wenn man zum Beispiel nur eine Masterarbeit über Mietrecht verfasst hat. Das Recht umfasst ja viele Bereiche.“ Strafrecht, Zivilrecht, Arbeitsrecht, Unternehmensrecht – all das gehört zur Ausbildung eines Juristen, und das hat Baerbock nicht vorzuweisen, wie bis vor kurzem noch angenommen wurde.

Der Blogger und Experte für Wissenschaftsbetrug Hadmut Danisch sieht im Gespräch mit dem eXXpress in Baerbocks „Master of Laws“ ebenfalls eine Irreführung. Baerbock könne nicht einfach behaupten, einen „Master“ zu haben, „weil das mit einem regulären deutschen Studiengang verwechselt würde. Deshalb dürfte sie ihn hier wohl nur in seiner vollen Bezeichnung mit Angabe der Universität führen“, meint er, „und ihn schon gar nicht ins Deutsche übersetzen und als ‚Master in Völkerrecht‘ ausgeben – denn den hat sie nicht. Das wäre Anmaßung eines akademischen Grades.“ In seiner jetzigen Nennung könne Baerbocks „Master“ auf jeden Fall mit „einem Master einer deutschen oder gleichwertigen Universität mit echten Leistungsnachweisen verwechselt werden“. Deshalb sei die Original-Bezeichnung mit Angabe der Universität nötig.

Das Vordiplom reichte nicht für das Masterstudium

Manche Fragen zu Baerbocks akademischem Werdegang sind noch ungeklärt. Der eXXpress hat die Grünen mit diesen Fragen konfrontiert. Die Grünen verweisen in ihrer Antwort auf einen bereits bekannten Tweets ihre Wahlkampf-Sprechers von voriger Woche:

Der eXXpress hat bereits über den Tweet berichtet. Nach Meinung von Beobachtern bleiben damit weitere Fragen offen, die von den Grünen bisher nicht beantwortet worden sind, etwa wie Annalena Baerbock nur mit einem Vordiplom und ohne einen akademischen Abschluss an der LSE aufgenommen werden konnte. Wolfgang Lipps meint dazu: „Ein Vordiplom allein reichte für die Aufnahme an der LSE nicht. Wie die damaligen Formulierungen der LSE zeigen, benötigte Frau Baerbock noch eine zusätzliche Qualifikation wie ein drittes Studienjahr. Möglicherweise war es ein Empfehlungsschreiben eines von Baerbocks Professoren, das die LSE überzeugt hat.“

LSE ist bisher Antworten schuldig

Hadmut Danisch irritiert noch etwas anderes: „Die Frage ist, wie man mit einem Vordiplom in Politischer Wissenschaft ein Jura-Master-Studium aufnehmen konnte. Mir liegt bisher noch keine Antwort der LSE auf meine Frage dazu vor.“ Gemäß alten und neuen Webseiten der LSE sei nämlich ein juristisches Vorstudium erforderlich, und „nicht einfach irgendeines. Vor- und Hauptstudium müssen zusammenpassen, sonst ergeben sie eben kein Studium.“

Fakt ist: Die LSE hat Annalena Baerbock aufgenommen und akzeptiert. Das wird sie aufgrund der damaligen Qualifikationen von Baerbock heute begründen müssen.

Mit "Gut bis Befriedigend" abgeschlossen

Was ebenfalls einige verwundert hat: Mit ihrer Masterarbeit erreichte Baerbock 67 Prozent, hat aber dennoch „mit Auszeichnung“ („with distinction“) ihr Studium abgeschlossen. Dazu sagt Wolfgang Lipps: „Das entspricht bei uns vermutlich einem Gut bis Befriedigend.“ Danisch unterstreicht: „Es gibt keinen Beleg für eine Auszeichnung. Da wurde anscheinend die Bewertung ‚with distinction‘ in eine Auszeichnung übersetzt, bedeutet aber anscheinend, und soweit ersichtlich, nur eine überdurchschnittlich gute Note“.

Schließlich ist da noch die Phase von 2009 bis 2013, als Baerbock Doktorandin des Völkerrechts an der Freien Universität Berlin war. Hier fragen sich manche, inwieweit Baerbock mit ihrer bisherigen Ausbildung auch in Jus promovieren konnte. Lipps zufolge genügt es in Deutschland, wenn ein deutscher Professor jemanden als Doktorand akzeptiert. Bis jetzt ist aber nicht bekannt, bei wem Baerbock worüber promovieren wollte. Für Danisch stellt sich die Frage, „ob sie überhaupt die Zulassung beantragt und erhalten hat, wann und in welchem Fach.“

Falschmeldungen und Halbwahrheiten

Was man im Rückblick auf jeden Fall sagen kann: Es tauchten bisher falsche Angaben über Baerbocks akademischen Werdegang auf, etwa auf Wikipedia oder bei den Grünen, und der in der Öffentlichkeit entstandene Eindruck stimmte nicht mit den Fakten zusammen. Noch ist unklar, inwiefern diese Angaben von Baerbock selbst in die Welt gesetzt worden sind.

Danish bemängelt, dass Baerbock selbst die Un- oder Halbwahrheiten nie korrigiert hat. „Eine echte Unwahrheit dürfte es allerdings sein, dass sie – wie die Änderungen ihrer Webseite im Internet-Archiv zeigten – für den Wahlkampf 2013 aus ihrem Politik-Studium ein Politik- und Jura-Studium in Hamburg gemacht hat.“