Der Geschichtswissenschaftler Kaiser historisiert also das Kommunikationsmittel Brief. Goethe starb 1832. Vielleicht war der Brief da noch spannend, aber dann ging es bergab mit ihm, so der Experte. Das 19. und 20. Jahrhundert hindurch war der Brief schon erledigt. Die Menschen empfanden ihn als langweilig. Wer ihn nutzte, tat es widerwillig. Ein Wunder überhaupt, dass wir uns heute noch an den Brief erinnern, dass unsere Kinder noch wissen, was ein Brief ist.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die vergangenen Jahrhunderte waren geprägt vom Brief. Bis zum heutigen Tag werden die Briefwechsel von Theodor W. Adorno, Simone de Beauvoir, Thomas Mann, Hannah Arendt, Günther Anders oder auch – als Referenz an die SPÖ – von Karl Marx und Rosa Luxemburg verlegt und gelesen. Gerade wenn etwas Wichtiges mitgeteilt werden soll, wird zum Medium des Briefes gegriffen. Im Gegensatz zum flüchtigen Gestammel des Tweets, in dem auf 280 Zeichen zusammengepresst nicht mehr als der Widerschein eines Gefühlsausbruches, eines affektiven Kontrollverlustes sich zeigt. Der Brief ist rationaler, weil gut überlegt, zeigt an, dass etwas von Wert vermittelt werden will. Der Absender hat sich Zeit genommen ihn zu schreiben.

Die verlassene Arbeiterklasse

Ein Mensch mit lauteren Absichten und konstruktiver Gesinnung nimmt Briefe ernst. Er liest sie genau und schreibt eine wohlüberlegte Antwort. Häufig beginnt so ein Diskurs. Nicht so die Nomenklatura der Bundes-SPÖ. Neben Kaiser, der gleich das Medium als Ganzes delegitimiert, raunen sozialdemokratische Abgeordnete in den Couloirs des Parlaments Journalisten zu, dass Doskozil ein nicht ernst zu nehmender „politischer Flachwurzler“ sei und die Jungabgeordnete mit dem immer traurigen Gesicht, die unter den österreichischen Jugendlichen kaum jemand kennt, belehrt den Landeshauptmann, dass es in Zeiten von Arbeitslosigkeit und Corona-Epidemie nicht angezeigt sei, Briefe zu schreiben. Es ist aber offenbar angezeigt, sich mit Journalisten hinzusetzen, um einen unliebsamen Brief zu kommentieren. Zwar nicht sachlich, aber man verliert dann doch ein paar unfreundliche Worte über den Absender.

Was aber war die Absicht Doskozils? Er wollte der SPÖ das mitteilen, was gerade auch Sahra Wagenknecht der gesamten linken Bewegung mit ihrem hervorragenden neuen Buch „Die Selbstgerechten“ ins Stammbuch geschrieben hat, dass sie gerade dabei ist, die Arbeiter- und Mittelklasse alleine zu lassen und zu einer Vereinigung von linksliberalen Lifestyle-Schnöseln zu werden, die sich vom Großkapital in ihren PR-, Beratungs-, Werbeagenturen und Medienhäusern durchfüttern lassen und nichts mehr anderes im Kopf haben, als Identitätspolitik und Anerkennungsdiskurse, die einen unübersichtlichen Haufen von atomisierten Kleingruppen betreffen.

Die ehemals große Partei des Volkes taumelt

Weil sie ideologisch falsch ausgerichtet und miserabel geführt ist, taumelt die SPÖ, genau wie die SPD übrigens, wie paralysiert durch die politische Landschaft. SPD und SPÖ, vormals große Volksparteien, erreichen in Umfragen gerade noch zwischen 15 und 20 Prozent des Elektorats. In Deutschland steht eine Abgeordnete an der Spitze, die sich als Anhängerin der linksradikalen Antifa deklariert, in Österreich eine habilitierte Tropenmedizinerin, die uns gerade das Kunststück vorführt, wie man in einer pandemischen Gesundheitskrise als Top-Expertin nichts dazugewinnt. Vielleicht hätte es sich doch gelohnt, Doskozils Brief zu lesen?

Der Jugendforscher und eXXpress-Kolumnist Bernhard Heinzlmaier untersucht seit mehr als zwei Jahrzehnten die Lebenswelt der Jugend und ihr Freizeitverhalten. Er kennt die Trends, vom Ende der Ich-AG bis zum neuen Hedonismus und Körperkult, bis zu Zukunftsängsten im Schatten von Digitalisierung und Lockdown. Heinzlmaier ist Mitbegründer und ehrenamtlicher Vorsitzender des Instituts für Jugendkulturforschung. Hauptberuflich leitet er das Marktforschungsunternehmen tfactory in Hamburg.