Die kalte Progression ist anhand eines Beispiels leicht erklärt. Sie bekommen eine Gehaltserhöhung, welche die Inflation ausgleichen soll. Allerdings rutschen Sie damit in eine höhere Einkommenssteuerstufe und müssen somit mehr Steuern zahlen. Denn die Steuerstufen werden nicht der Inflation angepasst. So ist es unvermeidlich, dass jeder Steuerzahler irgendwann die kalte Progression zu spüren bekommt. Und zwar immer zu seinem Nachteil. Wir reden hier von einem Milliardengeschäft zu Lasten der Steuerzahler. Der Think Tank Agenda Austria hat kürzlich folgendes errechnet: „Durchschnittsverdiener, die in den vergangenen fünf Jahren nur die Inflation abgegolten bekommen haben, verdienen heute um 8,2 Prozent mehr – zahlen aber um 11,8 Prozent mehr Lohnsteuer.“

Die ewige Wartebank

Dabei wird seit Jahren zugesagt, dieses offensichtlich groteske System gerade zu ziehen und die kalte Progression durch eine Anpassung der Steuerstufen an die Inflation ganz einfach zu beenden. Ein Federstrich, den Regierungen und Finanzminister seit Jahren versprechen, aber immer wieder mit Gleichgültigkeit brechen. Stattdessen wird bereits traditionell von jeder Regierung dem Bürger die „größte Steuerentlastung aller Zeiten“ angekündigt, die sich – eben aufgrund der kalten Progression – nach einigen Jahren zu einer Mäuschenreformen reduziert. Aber darüber redet dann niemand mehr. Wie wäre es also, mit diesem gutsherrenähnlichen Verhalten aufzuhören und die Menschen gerade bei der aktuellen Inflationshöhe nicht weiter für blöd zu verkaufen? Viele verdienen ihr Geld mühsam genug und sie verdienen es, bei der Besteuerung fair behandelt zu werden.

Kalte Progression wird zur Vertrauensfrage

Nur wenige Politiker genießen bei diesem Thema noch Glaubwürdigkeit. Der Abgeordnete Gerald Loacker (NEOS) läuft beispielsweise seit Jahren unermüdlich gegen dieses System Sturm. In einem sachlich aufbereiteten Entschließungsantrag brachte der Wirtschaftssprecher der NEOS gemeinsam mit seiner Parteikollegin Karin Doppelbauer die kalte Progression wieder auf die parlamentarische Ebene: “Die Bundesregierung, insbesondere der Bundesminister für Finanzen, wird aufgefordert, dem Nationalrat umgehend eine Regierungsvorlage vorzulegen , die die Kalte Progression abschafft, indem die Steuer-Tarifstufen des§ 33 Abs. 1 EStG 1988 an die Inflation gekoppelt werden.” Prompt wurde dieser Antrag mit den Stimmen der ÖVP, Grüne und SPÖ abgelehnt. Die Ablehnung der SPÖ war umso überraschender, da sich kurz zuvor der Sozialdemokratie nahestehende Vertreter der Arbeiterkammer öffentlich für eine Abschaffung ausgesprochen hatten. Die Regierung hatte schon im Regierungsprogramm zur kalten Progression „klare Worte“ gefunden. Auf Seite 57 ist zu lesen: „Prüfung einer adäquaten Anpassung der Grenzbeträge für die Progressionsstufen auf Basis der Inflation der Vorjahre unter Berücksichtigung der Verteilungseffekte“. Also im Grunde das, was Gerald Loacker forderte: Überprüfen und umsetzen.

Fast wäre es soweit gewesen

Im Jahr 2017 plante die damalige SP/VP-Regierung dieses Relikt aus Gutsherrenzeiten endgültig dorthin zu verfrachten, wo es seit Jahren hingehört: ins Archiv. Zusätzlichen Zündstoff erhielt dieses Thema erst in den vergangenen Wochen durch diverse Chats, die an die Öffentlichkeit drangen. Jedenfalls gelang es der damaligen Regierungsspitze Christian Kern (SPÖ) und Reinhold Mitterlehner (ÖVP) nicht, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. So sind die Steuerzahler den vermeintlich großzügigen Staatsakten ausgesetzt, in denen die jeweilige Regierung das selbst angeworfene Scheinwerferlicht genießt, auch „Steuerreform“ genannt. Fairness, Vernunft und Transparenz bleiben hingegen in der zweiten Reihe unbeachtet sitzen. Die Folgen werden wir immer deutlicher spüren, wenn sich die Inflation in diesem Tempo weiterentwickelt. Aber wir sind ja nur Bürger, Bittsteller und Zahler.