Man braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, was Joe Biden bei seinem Besuch am Montag in Polen öffentlich erklären wird. Von der ungebrochenen Unterstützung der USA für die Ukraine wird er wohl sprechen, und scharfe Worte an Wladimir Putin richten kurz vor dem zweiten Jahrestag von dessen völkerrechtswidriger Invasion. Doch der wahre Grund für das Treffen des US-Präsidenten mit Polens Präsident Andrzej Duda und anderen NATO-Mitgliedern ist „kompliziert“, wie „Politico“ schreibt – und das ist noch höflich formuliert.

Angst, dass Russland wieder Fuß fassen könnte

Während die USA bereits festgehalten haben, was sie für Kiew in diesem Jahr tun werden, beklagen sämtliche EU-Staaten, was sie zurzeit alles nicht tun können. Deutschland hat sich schlussendlich dazu durchgerungen, Leopard-2-Panzer in die Ukraine zu transportieren – weitere Zusagen bleiben nun aus: Sämtliche Länder wollen sich den Panzer-Lieferungen nun doch nicht anschließen. Zahlreiche Probleme gibt es auch beim Transport. Das alles kommt zur Unzeit, denn man rechnet mit einer unmittelbar bevorstehenden Offensive Russlands.

Kanzler Olaf Scholz hat die Lieferung von Leopard-2-Panzern zugesagt – und bleibt damit ziemlich allein.APA/AFP/POOL/Axel Heimken

„Während die Kämpfe weiter toben, befürchten beiden Seiten des Atlantiks, dass Russland wieder Fuß fasst, dass die Ukraine in bestimmten Teilen des Ostens und des Südens überrannt werden könnte und dass die Waffenlieferungen des Westens auf ein Rinnsal zusammenschrumpfen werden“, schreibt „Politico“. Zwar zeigt die Ukraine erstaunliche Widerstandskraft, mit der sie Putin und den Westen gleichermaßen überrascht hat. Doch das ändert nichts an einigen grundlegenden Vorteilen Moskaus, über die gerne hinweggesehen wird: mehr Arbeitskräfte und ein Zeitvorsprung.

Erstaunliche Erfolge der Wagner-Gruppe

„Obwohl die Russen schwere Verluste erlitten haben, verfügen sie immer noch über weit mehr Truppen als die Ukraine, die sie in den Kampf schicken können“, schreibt „politico“. „Darunter auch ehemalige Gefangene, die von der Söldnergruppe Wagner. Diese Gruppe hat nach Angaben von US-Beamten an der Front erstaunliche Erfolge erzielt und dabei wenig Rücksicht auf die erlittenen Verluste genommen.“

Die Erfolge der Wagner-Gruppe haben einige Beobachter überrascht.

Erst kürzlich machte der Oberste NATO-Befehlshaber der europäischen Streitkräfte darauf aufmerksam, dass das Verteidigungsbündnis auf einen Krieg dieser Größenordnung eigentlich nicht vorbereitet ist – der eXXpress hat berichtet. Kein Geheimnis ist auch länger, dass einigen Europäern mittlerweile die Munition ausgeht. Europa hat sich in Fragen der Sicherheitspolitik in den vergangenen Jahrzehnten im Wesentlichen von den Vereinigten Staaten abhängig gemacht, und dabei nicht nur seine Armeen, sondern auch die eigene Rüstungsindustrie vernachlässigt. Das rächt sich nun.

Weißes Haus besorgt über Europas überlastete Verteidigungsindustrie

„Im Weißen Haus ist man sehr besorgt über die Fähigkeit Europas, der Ukraine Artilleriemunition und andere Hilfsgüter zu liefern“, schreibt „politico“. „Die Verteidigungsindustrie des Kontinents ist überlastet, und einige Länder sagen, dass ihre Vorräte bereits aufgebraucht sind.“

NATO-General Jens Stoltenberg begrüßte bei der Münchner Sicherheitskonferenz Deutschlands Anstrengungen, seine Rüstungsindustrie wieder auf Vordermann zu bringen.
Der britische Premiers Boris Johnson (l.) soll Wolodymyr Selenskyj (r.) im Frühjahr 2022 von einer erfolgreichen mit Wladimir Putin abgeraten haben. Möglicherweise bereuen das manche jetzt.

Vieles deutet darauf hin, „dass in den Machtzentren Europas die Alarmglocken schrillen“, räumt die US-amerikanische Tageszeitung offen ein. Sie zitiert Alina Polyakova, Leiterin des Center for European Policy Analysis in Washington, D.C: „Der Krieg hat tiefgreifende Defizite in den Fähigkeiten und Waffenbeständen der europäischen Länder aufgedeckt. Die Sorge ist, dass sie schon jetzt nicht genug haben, um die Ukraine zu versorgen und gleichzeitig Nachschub zu liefern. Und ob die US-Verteidigungsindustrie schnell genug umschwenken kann – viele glauben, dass sie es nicht kann.“