Der Titel der diesjährigen Biennale, “The Milk of Dreams”, stammt aus einem Kinderbuch von Leonora Carrington (1917 – 2011). Darin erzählt die surrealistische Künstlerin Geschichten, die von hybriden, mutierenden Gestalten handelt, die Jung und Alt gleichermaßen das Fürchten lehren und faszinieren. Carrington beschreibt eine magisch-poetische Welt, in der sich jeder und alles – alleine durch die Macht der Phantasie – immer wieder aufs Neue erfinden kann.

Dieses Konzept wirkt vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehens umso eindrucksvoller: Denn in einer Welt der ständigen technologischen Erneuerungen, der ansteigenden sozialen Unruhen, der schier endlos erscheinenden Pandemien, Naturkatastrophen und furchtbaren, zerstörerischen Kriege ist die Vorstellung einer magischen Metamorphose allein durch Wunschkraft heilender Balsam für die Seele.

Während uns die Welt da draußen unsere eigene Endlichkeit mit einer brutalen Intensität vor Augen führt, finden wir Heilung in der Erkenntnis, dass wir alle miteinander verbunden und Teile eines großen, unzertrennlichen Ganzen sind, dessen Schöpfungskraft unermesslich ist.

Die Schöpfungskraft ist weiblich – und umso passender ist es, dass sich die Italienerin Cecilia Alemani entschlossen hat, die 59. Biennale mit einem femininen Fokus zu besetzen. Die Ausstellung zeigt weibliche Künstlerinnen, die im Laufe der Zeit weniger Beachtung als ihre männlichen Kollegen fanden. Die “Milk of Dreams” wird durchflossen von Solidarität, Formen der Symbiose und der “Sisterhood” – dem Zusammenhalt unter Frauen. Einige der Künstlerinnen denken dabei die Kategorien des Menschen und die des eigenen Ichs auf eine sehr radikale Art und Weise neu.

213 Künstlerinnen und Künstler aus 58 Ländern stellen im Zentralen Pavillon (Giardini) und im Arsenale aus. Auch neue extra für diese Ausstellung konzipierte Arbeiten sind dabei. Beteiligt sind 80 nationale Pavillons, Länder wie zum Beispiel Kamerun, Namibia, Nepal, Oman und Uganda sind überhaupt zum ersten Mal vertreten.

Besonders hervorzuheben sind Länderpavillons wie zum Beispiel Belgien. Francis Alys zeigt in “Nature of the Game” öffentlich zugänglichen Videos von Kindern aus der ganzen Welt beim Spielen. Francis Alys bringt durch Poesie, Ursprung und Phantasie die Sinne ins schwingen.

Die Vereinigten Staaten werden in Venedig von der Bildhauerin Simone Leigh mit Sovereignty (52) vertreten. Der USA-Pavillon legt seinen Schwerpunkt auf die Erfahrungen Schwarzer Frauen. Kuratiert wurde der US-Pavillon von Jill Medvedow, Direktorin des Institute of Contemporary Art (ICA) in Boston. Die Geschichte von Rasse, Gender und Arbeit werden hier in den Mittelpunkt gerückt – und könnten in Zeiten der “Black Lives Matter”-Bewegung und dem parallelen Wiedererstarken des Rechtspopulismus auch in den USA kaum aktueller sein.

“Ich fühle mich als Teil einer größeren Gruppe von Künstlern und Denkern, die eine kritische Masse erreicht haben”, sagte Leigh der “New York Times”. “Und trotz des wirklich schrecklichen Klimas, das wir erreicht haben, lenkt es mich immer noch nicht von der Tatsache ab, wie erstaunlich es ist, in diesen Zeiten ein schwarzer Künstler zu sein.”

Ebenfalls sehr empfehlenswert erscheint der Kunstquelle des eXXpress der serbische Beitrag zur Biennale: Mit “Walking in Water” zeigt Vladimir Nikolic zwei immense Videoinstallationen. Die eine Installation zeigt das Meer und die andere einen Olympiapool, bei beiden Videoarbeiten sind die Perspektive komplett aufgehoben. Der Betrachter versunken in der Stille des Wassers bleibt trotzdem irritiert zurück.

Aber: Nicht nur diese Länderpavillons und nicht nur für Kunstkenner ist die Biennale Arte 2022 in Venedig ein Erlebnis  –  bis zum 27. November hat man dort noch die Möglichkeit, sich selbst ein Bild von der femininen Kunstgewalt zu machen und – im übertragenen Sinne – seinen Kunstsinn von der “Milk of Dreams” kosten zu lassen.