Prof. Markus C. Kerber schüttelt den Kopf: „Die EU hebelt nationales Recht aus.“ Was zurzeit geschehe, sei schlicht „ungeheuerlich“, sagt der Professor für öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der Technischen Universität Berlin gegenüber dem eXXpress.

Prof. Markus C. Kerber im Interview mit dem eXXpresseXXpressTV

Mit Hilfe eines neuen Finanzierungsinstruments, das bemerkenswerterweise „Friedensfazilität“ heißt, versorgt Brüssel die Ukraine mit Waffen und Ausrüstung. Dazu angeregt hat vor einem Jahr der Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäische Union, Josep Borrell. Seither hat die EU im Rahmen der Friedensfazilität Waffen im Wert von 3,6 Milliarden Euro an Kiew gespendet. Damit hat Brüssel die Sicherheitspolitik an sich gerissen, und zwar rechtswidrig, wie Kerber mit Nachdruck unterstreicht. 

Borrell: „Tödliche Ausrüstung für die heroische ukrainische Armee“

Nach dem russischen Angriffskrieg wollten einige NATO-Staaten nicht untätig bleiben. Die Niederlande, Estland und andere Länder erklärten, Kiew nun mit Defensivwaffen wie Panzerabwehrraketen zu versorgen. Die Möglichkeit dazu haben sie auch, als NATO-Staaten können sie das ohne weiteres tun. Doch dann schaltete sich Josep Borrell ein. Auf seinen Vorschlag hin hat der Rat der EU-Außenminister Ende Februar beschlossen, gemeinsam Waffen anzuschaffen und an Kiew zu liefern.

Borrell (r) zu Besuch bei Selenskyj in KiewAPA/AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE/Photo by Stringer

Durchaus martialisch war damals Borrells Wortwahl: Die Maßnahmen würden „darauf zielen, die Lieferung tödlicher Ausrüstung an die heroische ukrainische Armee zu finanzieren, die mit entschlossenem Widerstand gegen die russischen Invasoren kämpft“. Am Ende des informellen Treffens der Außenminister verkündete Borrell: Die EU werde die ukrainische Armee mit Waffen im Wert von 450 Millionen Euro, sowie mit Ausrüstung im Wert von 50 Millionen Euro versorgen.

Kerber: Russland kann die EU nun zur Kriegspartei erklären

Doch damit war nicht Schluss: Zwei Wochen später erklärte Borrell auf dem EU-Gipfel von Versailles, die ukrainischen Streitkräfte ein weiteres Mal mit Waffen und Ausrüstung in der Höhe von 500 Millionen Euro zu beliefern. Danach sagte der EU-Chefdiplomat bei seinem Kiew-Besuch die Zusendung von zusätzlichen Waffen in der Höhe von 500 Millionen Euro zu.

Mittlerweile gibt die EU Milliarden für Waffenlieferungen an die Ukraine aus.

Das Institut für Verteidigungstechnologie, Streitkräfteökonomik und Geopolitik (IVSG), dessen Vorstand Prof. Markus C. Kerber ist, hält Borrells Vorgehen für äußerst bedenklich, und das nicht nur wegen des „wenig problembewussten Umgangs mit Waffenlieferungen an eine Kriegspartei“. Russland könnte nun „unwiderlegbar behaupten, dass mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine die EU zur Kriegspartei werde“. Allerdings sei Verteidigungs- und Außenpolitik laut Rechtsprechung eindeutig als „notwendigerweise nationale Angelegenheit“ zu behandeln.

Neue Arbeitsteilung: Die EU bestellt Waffen, die Staaten liefern sie

Die Friedensfazilität war im März 2021 geschaffen worden. Eigentlich sollte mit ihr scheinbar „harmlose“ Nachbarschaftspolitik zugunsten von Drittstaaten finanziert werden. Das zu Verfügung stehende Geldvolumen: 5,7 Milliarden Euro. Ein Jahr später, infolge von Russlands Angriffskrieg, ließ sich Borrell „die Gelegenheit der ‚Solidarität mit der Ukraine‘ nicht entgehen, um die Friedensfazilität in Gestalt von Waffenlieferungen an die Ukraine zu aktivieren“, kritisiert das IVSG.

Gegenüber dem eXXpress erläutert Prof. Kerber: „Die Arbeitsteilung in der EU ist rechtlich gesehen eindeutig.“ Verteidigungs- und Außenpolitik seien einzig Sache der Nationalstaaten. Wie viele Waffen ein Land liefert – noch dazu an eine Kriegspartei – könne nur dieses Land selbst entscheiden, das gehöre nicht in die Zuständigkeit der EU. Damit hat Borrell gebrochen. Ob und welche Panzer ein Mitgliedsstaat im Rahmen der EU-Waffenlieferungen bereitstellt, hängt seither von der EU ab. „Die EU bestellt, die Ländern liefern“, meint Kerber. Mittlerweile hat die EU sogar ein Trainingscenter für ukrainische Soldaten eingerichtet. „Eigentlich müsste die NATO dagegen protestieren.“

Frei Bahn für Waffen-Lobbys in allen Ländern

Die Verteidigungsindustrie dürfte sich dennoch freuen. Die EU gehe vor, wie immer, sagt Kerber: Sie tastet sich heran, bietet Geld an – „und dann bleiben die Unternehmen am Ende immer still“. Ähnlich war das schon bei der Bestellung der Covid-Impfstoffe, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen während der Corona-Pandemie an sich gezogen hat. Die damalige Vorgangsweise ist überdies ein Beispiel dafür, wie intransparent die EU handelt. Bis Ende 2021 hat Von der Leyen Verträge im Wert von 71 Milliarden Euro unterzeichnet. „Kein Mensch weiß bis heute, was in den Verträgen steht“, klagt Kerber. „Das ist unglaublich.“

Höchst intransparent war die EU bereits bei den Imfpstoff-Bestellungen von Pfizer vorgängen. Im Bild: EU-Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen.APA/AFP/POOL/JOHN THYS

Man darf gespannt sein, wie transparent nun die Waffenkäufe der EU über die Bühne gehen werden bzw. gegangen sind. Dem Lobbying der Waffenindustrie sind Tür und Tor geöffnet.

Ein eigenes Thema ist dabei Österreichs Neutralität: Von ihrer ursprünglichen Bedeutung bleibt nicht mehr viel übrig.