Die EU-Kommission wird demnächst darüber zu entscheiden haben, ob sie der von Russland bedrängten Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten verleiht oder nicht.

Der ukrainische Präsident Selenskyj, ein begnadeter Rhetoriker, hat daraus unlängst gar eine Schicksalsfrage nicht nur für seine Heimat, sondern auch gleich für die Europäische Union gemacht. „Ich meine, das wird nicht nur eine Entscheidung für die Ukraine, sondern für das gesamte europäische Projekt sein“, sagte er in einer seiner abendlichen Videobotschaften. Das werde auch darüber entscheiden, „ob die EU eine Zukunft habe oder nicht“.

Das ist, bei allem Verständnis für den um die schiere Existenz seines Landes ringenden Präsidenten, schlicht und ergreifend Unfug. Dass die EU ohne die Ukraine keine Zukunft habe, ist ungefähr so zutreffend wie die Behauptung, die EU habe ohne Albanien, Mazedonien oder dem Kosovo keine Zukunft.

An diesem Grundsatz ändert auch das betrübliche Faktum nichts, dass die Ukraine von Russland brutal überfallen worden ist.

EU-Recht muss EU-Recht bleiben

Deshalb halte ich auch alle Versuche, der Ukraine irgendeine Art von Schnellbeitritt durch die Hintertür oder was da noch alles an krausen Ideen zirkuliert, für falsch.

Denn für den Beitritt eines Staates zur EU gibt es klar festgelegte Kriterien, die erfüllt sein müssen, und die Ukraine erfüllt eine ganze Reihe dieser sogenannten „Kopenhagen-Kriterien“ derzeit nicht, schon allein, weil sie sich im Krieg befindet, dessen Ausgang noch höchst ungewiss ist.

Leider neigen manche europäische Politiker und Publizisten dazu, der Ukraine eine rechtlich nicht gedeckt Vorzugsbehandlung zukommen zu lassen, um „ein Zeichen zu setzen“ oder Russland vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Gefühle dürfen da nicht zählen

Auf der Gefühlsebene mag das angesichts des russischen Verhaltens nachvollziehbar sein, doch so existentielle Fragen wie der Beitritt eines neuen, nicht eben unproblematischen Kandidaten darf nicht auf der Grundlage von Gefühlen und Befindlichkeiten erfolgen, sondern ausschließlich nach den vom EU-Recht vorgegebenen Kriterien. Und die geben vermutlich nicht einmal den Status eines Kandidaten her, derzeit jedenfalls.

Vermutlich ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, der Ukraine klar zu machen, was sich in dem Land alles ändern muss, bevor über einen Beitritt auch nur nachgedacht werden kann, etwa im Kontext von Korruption oder käuflicher Justiz. Einem schwer an Lungenkrebs erkrankten Patienten wird man ja auch nicht vor der entscheidenden Operation Vorwürfe wegen seines Zigarettenkonsums machen.

Und trotzdem wird die EU, gerade wenn sie der Ukraine gegenüber sympathisch eingestellt ist, Kiew irgendwann in aller Deutlichkeit sagen müssen, was Sache ist. Letztlich auch im Interesse der Ukraine selbst.

Die Sündenfälle der EU

Fatal wäre, diesen Weg zu verlassen und die Ukraine durch die Hintertür in die Union zu schleusen. Denn leider ist es auch ohne diesen Schritt seit etwa fünfzehn Jahren zu einer schweren Unterminierung der Rechtsstaatlichkeit durch die EU gekommen, angefangen von der am Rande des Rechts organisierten Griechenland-Rettung über den permanenten, aber ungestraften Verstoß der meisten Mitgliedsländer gegen die Schulden- und Defizitobergrenzen bis hin zu ebenfalls verpönten gemeinsamen Aufnahme von Schulden in Höhe von 750 Milliarden Euro zur Linderung der ökonomischen Folgen der Corona-Krise.

All das – und einiges mehr – stellt bei seriöser Betrachtung Rechtsbrüche dar, die den Anspruch der EU, geradezu Hort der Rechtsstaatlichkeit zu sein, doch einigermaßen unterminieren.

Jetzt auch noch die Ukraine unter Umgehung des Rechts an Bord zu holen, entspräche zwar dieser Logik – ist aber schon allein deswegen abzulehnen.