Dass Österreich Jahrzehnte lang viel weniger Geld als nahezu alle anderen europäischen Staaten für seine Landesverteidigung ausgab, weil alle Regierungen (und auch die Bevölkerung) davon ausgingen, im Notfall werde uns schon die NATO zu Hilfe eilen, halte ich persönlich für moralisch leicht verkommen – denn ein derartiges Verhalten würde nie funktionieren, wenn sich alle anderen Staaten auch so verhielten. Dem berühmten „Kant‘schen Imperativ“ – Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde – entspricht unsere bisherige Auffassung von Landesverteidigung demnach genau Nüsse. Verhielten sich alle so wie wir, stünde Putins Soldateska vermutlich schon an der Atlantikküste und würde dort Austern schlürfen.

Waren wir doch die Schlauen?

Man kann diese Politik der halbseidenen Trittbrett-Fahrerei freilich auch ganz anders beschreiben. Denn tatsächlich hat sich Österreich auf diese Art und Weise über die Jahre und Jahrzehnte Milliarden und Abermilliarden an Ausgaben für das Militär erspart, die anderweitig ausgegeben werden konnten. Opfer einer militärischen Aggression ist das Land trotzdem bis heute nicht geworden und wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in der überschaubaren Zukunft nicht werden. So besehen kann man auch als goldrichtige Entscheidung im nationalen Interesse Österreichs sehen, so lange und letztlich erfolgreich den Trittbrettfahrer gegeben zu haben. Vielleicht nicht sehr sympathisch, aber letztlich hats gut funktioniert.

Die halbseidene Republik

Eine derartig halbseidene Mentalität des guten Lebens auf Kosten Dritter prägt aber auch andere wichtige Bereiche staatlichen Handelns. Dass Österreich etwa anteilsmäßig mehr Gas aus Russland bezieht als jedes andere europäische Land, ist der gleichen Mentalität geschuldet. Denn diese Gas war Jahrzehnte lang extrem billig und schaffte Österreichs Industrie einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ausländischen Konkurrenten, die teureres Gas beziehen mussten, weil die jeweiligen Staaten Wert darauf legten, nicht völlig von Russland abhängig zu werden.

Dass sich die EU heute mit Embargos gegen Moskau so schwer tut, hängt natürlich mit genau dieser Abhängigkeit zusammen. Österreich hatte Jahrzehnte lang den Nutzen, und zwar Industrielle genauso wie Arbeitnehmer und der Staat im Wege von Steuereinnahmen – doch den Preis zahlt heute die Europäische Union in Form einer merkbaren Einschränkung ihrer politischen Optionen gegenüber dem Regime in Moskau; und in Folge letztlich die Bevölkerung der Ukraine.

Man kann dieses Verhalten, wie im Falle der Landesverteidigung, für etwas verlogen halten – aber wahr ist auch, dass sich Österreich auf diese Weise über die Jahre erhebliche wirtschaftliche Vorteile verschafft, man könnte auch sagen erschwindelt, hat.

Wir hassen Atomkraftwerke – und lieben Atomstrom

Oder nehmen wir die durch und durch verlogene und doppelbödige österreichische Haltung gegenüber der Kernenergie. Sie zur Stromerzeugung zu nutzen ist hierzulande strengstens verpönt, gesetzlich verboten und mit einem gleichsam religiösen Tabu belegt.

Gleichzeitig importiert Österreich aber jedes Jahr durchaus erhebliche Mengen von Atomstrom, der allerdings nicht hierzulande, sondern in Frankreich oder der Slowakei produziert wird. Ohne diese Lieferungen könnte es bei uns im Winter ziemlich finster und kalt werden.

Wir kennen das Muster jetzt schon gut: Wir genießen den Vorteil des Atomstroms gerne, bürden die damit allenfalls verbundenen Risiken aber den Bewohnern anderer europäischer Staaten auf. Auch das ist letztlich eine Form der Trittbrettfahrerei, die der Moral-Regel des Herrn Kant nie und nimmer standhalten würde. Gäbe es nämlich heute in ganz Europa keine Atomkraftwerke, müssten wir uns alle im wahrsten Sinne des Wortes warm anziehen, jedenfalls im nächsten Winter.

Die Zeit des Mogelns ist vorbei

Ohne es beweisen zu können vermute ich: Österreich ist mit dieser Trittbrettfahrer-Mentalität ausgezeichnet über die Runden gekommen, solange die Zeiten alles in allem Gute waren, Krieg nur eine langsam verblassende Erinnerung der Älteren war und naturgesetzlich erschien, dass jede Generation einen Rechtsanspruch hat, besser zu leben als die vor ihr. In diese europäischen Komfortzone ging die Politik des oberschlauen Trittbrettfahrens einfach irgendwie durch, weil es insgesamt allen immer besser ging. Der Wohlhabende tut sich erfahrungsgemäß leicht, kleine Gaunereien in seiner näheren Umgebung nonchalant zu ignorieren.

Doch angesichts der Zeitenwende, in die wir geraten sind, wird es künftig vielleicht nicht mehr so einfach sein, bei dieser Haltung zu bleiben. Und sie ist auch viel weniger leicht zu rechtfertigen. Wenn in der Ukraine Menschen für ihre Freiheit sterben, wird es zur Obszönität hierzulande Landesverteidigung für etwas zu halten, was gefälligst andere für uns erledigen sollen, wie das ja bisher de facto der Fall war.

Und das gilt nicht nur für die Landesverteidigung. Je härter die Zumutungen werden, denen sich alle Europäer vom Nordkap bis Sizilien stellen müssen, um so weniger akzeptabel wird das Halbseidene und Schlaucherlhafte, und um so notwendiger wird es, klare Positionen zu beziehen. Auch, wenn das teuer und unpopulär ist.