Ungefähr gefühlte hundert mal pro Tag spekulieren politische Analytiker, Medienmenschen und insbesondere hauptberufliche Russland-Erklärbären derzeit öffentlich darüber, was der russische Präsident Vladimir Putin mit der Ukraine vorhat und was sein Plan in dieser ganzen Sache ist.
Die einzige vernünftige und sinnvolle Antwort auf diese Frage stammt vom hiesigen Russland-Experten Gerhard Mangott: „Das weiß niemand.“ So ist es, Punkt.

Alles nur eine Frage der Macht, nicht des Rechtes

Es ist bis zu einem gewissen Grad auch unerheblich, denn es geht in dieser Krise ja nicht um Befindlichkeiten und Küchenpsychologie, sondern ausschließlich um Macht. Putin wird sich nicht anders verhalten als jeder rational agierende Führer einer militärischen Großmacht: er wird das tun, was er kann, wenn er einigermaßen sicher sein kann, dass der Preis, den er zu allenfalls zu entrichten hat (etwa in Form von Sanktionen), kleiner ist als der Nutzen, der zu erwarten ist (etwa in Form von Erweiterung des eigenen Territoriums oder Machtbereiches).
Nicht Völkerrecht oder gar Moral sind hier relevante Kriterien, sondern ausschließlich die Fähigkeit, seine eigenen Interessen durchzusetzen.
Man kann das mögen oder auch nicht, das ist die Realität.
Es ist dies freilich auch eine Realität, die zu begreifen sich viele Europäer, allen voran die Deutschen, mehr oder weniger weigern. Ganz offenbar ist es den Alliierten nach dem Weltkrieg dermaßen effizient gelungen, den Militarismus aus der kollektiven DNA der Deutschen herauszuoperieren, dass sie gleichsam strukturell Kriegs-unfähig geworden sind.

Hohn und Helme

Das mag man sympathisch finden, schwächt aber Europa insgesamt enorm in Krisen wie der aktuellen rund um die Ukraine. Denn immerhin wäre Deutschland mit über 80 Millionen Einwohnern und der stärksten Volkswirtschaft Europas die natürliche militärische Führungsmacht des Kontinents. Dass sie das weder ist noch sein will, mag der Geschichte geschuldet sein, bringt aber Russland in eine hervorragende strategische Situation. Wenn Deutschland zur allfälligen Verteidigung der Ukraine gegen eine allfällige Aggression gerade 5.000 Helme für Kiew zur Verfügung stellt und sogar Transportflugzeuge der Briten, die Waffen nach Kiew fliegen, nicht deutschen Luftraum benützen können, dann ist das ein ganz klare Signal an Moskau: wir werden die Ukraine im Stich lassen, wenn ihr sie angreift.
Das gilt, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, ja für den ganzen Westen, keine Regierung hat wirklich Lust, eigene junge Männer in dieser abgelegenen, ärmlichen und irgendwie uninteressanten Gegend gegen die militärisch hochgerüsteten Russen kämpfen zu lassen.
Niemand wird der Ukraine nennenswert militärisch zu Hilfe kommen, sollte sie von Russland attackiert werden – Sterben für Kiew, das ist für niemanden eine Option außer für die Ukrainer.

Ein Sieg ohne Kampf?

In gewisser Weise könnte man sagen: Putin hat Europa bereits besiegt, bevor noch ein einziger Schuss gefallen ist.
Das gilt übrigens auch weitestgehend für die Wirtschaftssanktionen, die von der EU angekündigt werden, einschließlich der ökonomischen Atombombe „Swift“, dem globalen Geld-Netz der Banken, von dem Russland theoretisch ausgeschlossen werden könnte. Das schadete zwar der dortigen Wirtschaft erheblich – aber noch mehr den Europäern, die dann ihre Gasrechnungen nicht mehr an Russland zahlen könnten, was zu Lieferstopps und damit kalten Wohnzimmern im Westen führen würde. Eine gute Option sieht anders aus.
Den meisten Europäern dürfte die Ukraine angesichts ihrer Lage und ihrer geringen Bedeutung ziemlich gleichgültig sein, und deshalb auch die Frage, wer dort herrscht.
Das mag in sich schlüssig sein und verführt trotzdem zu falschen, möglicherweise höchst gefährlichen Schlüssen.

Wollen wir das Altersheim des Globus werden?

Denn ein Europa, das auf der weltpolitischen Bühne als impotenter, verfetteter, vergreister und zu jeglicher Gegenwehr unfähiger Akteur wahrgenommen wird, der nicht einmal einem Nachbar helfen kann oder will, bei dem gerade eingebrochen wird, wird auch a la longue genauso behandelt werden in dieser kalten Welt da draußen – und immer wieder und immer öfter nachgeben müssen, wenn handlungsfähigere Mächte ökonomische oder Geostrategische Forderungen erheben.
Deshalb ist die wirklich wichtige Frage in diesen Tagen nicht so sehr, was Putin will, sondern was wir Europäer, allen voran die Deutschen, eigentlich sein wollen: Erwachsene, die ihre Interessen durchsetzen können und wollen, auch wenn das nicht umsonst zu haben ist – oder die Insassen des Seniorenheimes der Welt, mit denen man verfahren kann, wie es einem beliebt. Wenn man sich selbst nicht ernst nimmt, wird einen auch sonst niemand ernst nehmen.