Karl Nehammer, dem seit seiner Angelobung zum Bundeskanzler vor zwei Monaten eigentlich kaum ein nennenswerter Fehler vorzuhalten ist und der durchaus das Zeug hat, die ÖVP wieder zur Nummer 1 zu machen, hat vergangene Woche leider eine Chance vergeigt; und das noch dazu ohne wirkliche Not. Denn Nehammer hatte die Chance, sich in einer wichtigen Sache erstmals stark als bürgerlich-liberaler Politiker zu positionierten, indem er die umstrittene Corona-Impfpflicht abgeblasen hätte, vorerst zumindest.

Er hätte das verbinden können mit einem vorsichtigen, aber entschlossenen Hinweis darauf, dass wir nun wirklich erstmals seit Ausbruch der Pandemie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen können, dass der Horror in ein paar Monaten weitgehend gebannt sein könnte. Und so eine Art österreichischen Independence Day ankündigen können.

Denn die Daten geben das mittlerweile mit hoher Wahrscheinlichkeit her. Selbst der Verhaltenspsychologe Tomas Pueyo, der am Anfang der Pandemie mit der Forderung „Flatten the curve“ weltberühmt geworden ist, meint nun: “Es ist Zeit, das Leben wieder zu beginnen.” (https://exxpress.at/einer-der-ersten-corona-warner-gibt-entwarnung-in-kuerze-ist-es-vorbei/)

Einerseits, weil Omikron tatsächlich wesentlich weniger gefährlich ist als seine Vorgänger, zweitens, weil nun auch sehr bald Impfstoffe zur Verfügung stehen, die speziell gegen diese Mutation wirksam sind, und drittens, weil nun auch schon erste Medikamente da sind, die wirksame Therapieformen ermöglichen.

Das bedeutet aber auch, dass auf absehbare Zeit auch keine Überlastung des Gesundheitssystems mehr droht, wie wir sie im Zuge der ersten Wellen erleben mussten, nicht nur in Österreich.

Es gibt keinen medizinischen Grund für Impfpflicht – derzeit

Was wiederum bedeutet, dass die einzige valide Begründung für einen so massiven Eingriff in die Grundrechte, nämlich der Schutz der medizinischen Infrastruktur vor einem Kollaps, mit hoher Wahrscheinlichkeit wegfällt. Zu argumentieren, wie das jetzt die Regierung versucht, man könne ja nicht wissen, welche Mutationen im Herbst oder Winter auf uns zu kommen, mag inhaltlich stimmen, wiegt aber nicht schwer genug. Grundrechte kann man nicht mit dem Argument beseitigen, die Zukunft sei ungewiss. Das wird übrigens auch der Verfassungsgerichtshof mit hoher Wahrscheinlichkeit so sehen.

Die Schwurbler als Helfer der Pflicht-Befürworter

Warum ergreifen Nehammer und seine Regierung dann nicht die Chance, das Impfpflicht-Gesetz zu kippen und gleichzeitig eine Perspektive zum Exit zu schaffen?

Einerseits hängt der ÖVP natürlich noch der voreilige Versuch Sebastian Kurz` nach, schon im vergangenen Sommer das Ende der Pandemie zu verkünden; andererseits birgt die leider viel zu hohe Zahl der Impfverweigerer in Österreich natürlich noch immer erhebliche Gefahren weiterer System-Komplikationen in sich. Dazu kommt, dass Politiker eine unberechtigte Scheu davor haben, neue Erkenntnisse in neue Meinungen zu transformieren; und schließlich soll die FPÖ nicht befähigt werden, das allfällige aus für die Impfpflicht als Erfolg zu verbuchen. Plus: die Mehrheit ist für diese Impfpflicht, wie alle Umfragen zeigen.

All das sind valide Argumente; vor allem die große Anzahl der Verweigerer, die wider jede Vernunft, jede Ratio und jeden Gemeinsinn stur an ihrem unsolidarischen und sich selbst gefährdenden Wahn festhalten, spielt natürlich den Befürwortern der Impfpflicht in die Hände. Im Grunde sind die Schwurbler-Demos, Herrn Kickls Hetztiraden und all die anderen Narreteien die Geschäftsgrundlage jener, die diese Einschränkung der Freiheitrechte für notwendig erachten.

Der Autopilot ist keine Lösung

Es ist naturgemäß schwer zu beweisen, aber ich vermute, die regierende Koalition hätte an Reputation und Zustimmung gewonnen, hätte sie nach Abwägung aller Argumente auf die Impfpflicht verzichtet und statt dessen einen Exit-Plan vorgelegt.

Für die Politik ist es ein bisschen so, als würde man ein Flugzeug auf einer eisigen Landebahn landen,“ schrieb dazu jüngst der britische Public-Health- Experte Devi Sridhar im Londoner „Guardian“ treffend, „Der Treibstoff der öffentlichen Geduld geht zur Neige; und Verschleiß in Form von wirtschaftlichen und sozialen Schäden hat sich über zwei Jahre in einer Warteschleife aufgebaut. Die Notwendigkeit zu landen ist offensichtlich, und wir haben die Werkzeuge dafür, aber es ist immer noch ein schwieriges Unterfangen unter den gegenwärtigen Bedingungen.“

Genauso ist es, und niemand kann garantieren, dass die Landung auch wirklich gelingt. Und trotzdem erschiene sie mir jetzt, wenn man alle Fakten und Risiken nebeneinander legt, der bessere Plan als durchzustarten und noch eine Runde über den Platz zu fliegen. Aber vielleicht ändert Flugkapitän Nehammer in den nächsten Wochen nochmals den Kurs. Denn der Autopilot ist in dieser Lage kein guter Pilot.