Die Nachbarstaaten der Ukraine haben Präsident Wolodymyr Selenskyj „still und heimlich gedrängt, einen Weg zu finden, um den Krieg zu beenden – notfalls auch durch seinen Rücktritt – und den Wiederaufbau seines Landes in Angriff zu nehmen“. Das berichtet Star-Reporter Seymour Hersh unter Berufung auf US-Geheimdienstler, die bekanntlich gerne das Gespräch mit ihm suchen. Regierungsvertreter „in Polen, Ungarn, Litauen, Estland, der Tschechischen Republik und Lettland“ hätten Selenskyj in diese Richtung gedrängt, und zwar „auf verschiedenen Ebenen“. Angeführt werde die Gruppe von Polen.

Mit Ausnahme Ungarns sind alle Staaten klar pro-ukrainisch und gegen Russland eingestellt. Doch hinter den Kulissen arbeiten sie demnach an einem Kriegsende.

Der polnische Präsident Andrzej Duda (l.) und Wolodymyr Selenskyj: Still und heimlich werde bereits an einem Kriegsende gearbeitet, berichtet Hersh unter Berufung auf US-Beamte.APA/AFP/Wojtek Radwanski

Ukraine hat aus Polens Sicht „ihren Job erledigt“

Es wäre eine bemerkenswerte Wendung. Internationalen Medienberichten zufolge waren es vor einem Jahr, im April 2022, ausgerechnet die baltischen Staaten und Polen gewesen, die kein zu schnelles Einlenken der Ukraine wünschten, aus Angst, dann das nächste Ziel Putins zu sein. Der neue Bericht von Hersh deutet darauf hin, dass die Ukraine ihren Job mittlerweile erledigt hat. Polen fürchtet heute nicht mehr die russische Armee.

Offiziell deutet nichts auf einen Waffenstillstand zwischen Moskau und Kiew hin. Auch die Biden-Administration denkt zurzeit nicht an ein Kriegsende. US-Geheimdienstler und europäische Politiker schon.APA/GETTY

Treibende Kraft für die Gespräche mit Selenskyj seien darüber die Millionen an ukrainischen Flüchtlingen gewesen. Mittlerweile sei es schwierig, ihre genaue Zahl zu bestimmen. Im ersten Kriegsjahr seien „zig Milliarden Dollar“ an humanitärer Hilfe in die Nachbarländer der Ukraine geflossen. „Da der Konflikt in sein zweites Jahr geht und kein Ende in Sicht ist“, heißt es in einer Analyse des Council on Foreign Relations, „machen sich Experten Sorgen, dass die Aufnahmeländer müde werden.“

In Polen wurde eine Unterkunft für Flüchtlinge aus der Ukraine in der Ausstellungshalle der Global Expo in Warschau eingerichtet.APA/AFP/Alik KEPLICZ

Bisher hat sich Selenskyj quer gelegt, doch die Unterstützung für ihn schwinde

Wie aus abgehörten Nachrichten und anderen Daten der CIA hervorgeht, lasse sich Selenskyj nicht beirren, aber „er beginnt, die persönliche Unterstützung seiner Nachbarn zu verlieren“, schreibt Hersh. Allerdings würden auch einige Beamte in Westeuropa ein Ende des Krieges zwischen der Ukraine und Russland wünschen. „Diese Beamten sind zu dem Schluss gekommen, dass es für Selenskyj an der Zeit ist, ‚umzukehren‘ und eine Einigung anzustreben“, schreibt Hersh, dem ein „sachkundiger“ US-Beamter mitgeteilt hat: „Ungarn ist ein wichtiger Akteur in dieser Angelegenheit, ebenso wie Polen und Deutschland, und sie arbeiten daran, Selenskyj zum Einlenken zu bewegen.“

Seymour Hersh verfügt seit Jahrzehnten über einen guten Draht zu Geheimdienst-Kreisen.

Selenskyj könne dann „behalten, was er hat – eine Villa in Italien und Anteile an Offshore-Bankkonten – wenn er ein Friedensabkommen ausarbeitet“, selbst wenn Selenskyj dann selbst den Hut nehmen muss. „Bisher, so der Beamte, hat Selenskyj solche Ratschläge abgelehnt und Angebote über hohe Geldsummen ignoriert, die ihm den Rückzug auf ein ihm gehörendes Anwesen in Italien erleichtern sollten.“

Biden will Selenskyj halten, US-Geheimdienst hat andere Sicht

Keinerlei Unterstützung für eine Einigung mit Moskau, die auch Selenskyjs Abgang beinhaltet, gebe es aber in der Biden-Administration. Auch die Führung in Frankreich und England sei Biden gegenüber „zu verpflichtet“, um ein solches Szenario in Betracht zu ziehen.

Doch auch US-Geheimdienstler würden nicht länger ignorieren, was das Weiße Haus nach wie vor ignoriert: „Der Ukraine geht das Geld aus, und es ist bekannt, dass die nächsten vier oder fünf Monate kritisch sind. Und die Osteuropäer sprechen über einen Deal.“ Das Problem für sie, so der Beamte, „ist, wie man die Vereinigten Staaten dazu bringen kann, Selenskyj nicht mehr zu unterstützen“.

Auch Deutschland wirke auf Selenskyj ein, den Krieg zu beenden – hinter den Kulissen. Im Bild: Selenskyj (r.) mit Kanzler Olaf Scholz (l.)APA/AFP/Handout/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE

Hersh weiter: „Und Selenskyi will mehr, sagte der Beamte. ‚Selenskyj sagt uns, wenn ihr den Krieg gewinnen wollt, dann müsst Ihr mir mehr Geld und mehr Material geben. Er sagt uns: ‚Ich muss die Generäle auszahlen.‘“ Sollte er aus dem Amt gezwungen werden, „geht er an den Meistbietenden. Er würde lieber nach Italien gehen, als zu bleiben und möglicherweise von seinen eigenen Leuten getötet zu werden.“

Unklar, inwiefern der US-Präsident über die Diskussion in Europa informiert ist

Dem US-Beamten zufolge sei aber den Geheimdienstkreisen wie üblich nicht klar, „was der Präsident und seine außenpolitischen Berater im Weißen Haus über die Realität wissen, was die europäische Diskussion über einen Weg zur Beendigung des Krieges angeht. Wir bilden die Ukrainer immer noch darin aus, unsere F-16 zu fliegen, die von Russland abgeschossen werden, sobald sie in das Kriegsgebiet kommen.“

Und: „Europas Problem im Hinblick auf eine schnelle Beilegung des Krieges ist, dass das Weiße Haus will, dass Selenskyj überlebt, während es andere gibt“ – in Russland und in einigen europäischen Hauptstädten – „die sagen, dass Selenskyj gehen muss, egal was passiert”.