Die Taliban sind zurück. Kaum vier Wochen hat es gedauert das 38 Millionen Einwohner-Land am Hindukusch wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Eine strategisch wichtige Stadt nach der anderen wurde eingenommen. Armee und Sicherheitskräfte leisteten kaum Widerstand, wechselten teilweise mitsamt hochmoderner US-Militärtechnik die Seiten.

Unfähig, schlimmer aber noch, absolut unwillens die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften seit dem Sturz des Terrorregimes im Jahr 2001 zu verteidigen.

Verstörende Bilder

Die Bilder, die uns seitdem erreichen, sind an Skurrilität kaum zu überbieten: Da blödeln brutale Kämpfer im Fitnesscenter des Präsidentschaftspalastes herum, fahren schwerbewaffnet Autodrom oder posieren in landesüblicher Tracht der Ziegenhirten vor milliardenschwerem High-Tech-Militärgerät.

Freundlich zur Verfügung gestellt vom US-Taxpayer, um die zarten und im rauen afghanischen Klima nur zaghaft gedeihenden Pflänzchen, Demokratie, Freiheit, Wohlstand und Sicherheit zu schützen. Spätestens aber seit der Flucht des Präsidenten und dem Fall der Hauptstadt wissen wir: Erstens, da wächst nix und zweitens, Hirten wissen mit ihren gefräßigen Horden auch dem kleinsten Pflänzchen den Garaus zu machen.

Gescheiterter Idealismus

Nach mehr als 40 Jahren Krieg, Bürgerkrieg und Dauerkrise sollte eines also klar sein: Afghanistan verträgt keinen Idealismus – zumindest keinen der dem Land von außen, links oder rechts aufgezwungen wird. Viele mussten das schon auf die harte Tour lernen.

Zuerst die kommunistischen Revolutionäre Anfang der 1980er-Jahre, denen (Achtung: Treppenwitz) die Modernisierung des Landes, der Ausbau von Frauenrechten, die Fortschritte im Bildungs- und Gesundheitswesen und einiges mehr in der damaligen Monarchie zu langsam vorangingen.

Dann die Sowjet-Invasoren beim Versuch das, auf Unabhängigkeit ausgerichtete, afghanische KP-Regime an die Kandare zu nehmen und gleichzeitig gegen islamistische Aufständische zu stabilisieren. Jene aufständischen Mudschahedin übrigens (schon wieder so ein Treppenwitz), die so gar nichts mit den oktroyierten Reformen anfangen konnten und beim Kampf um ihre liebgewonnene Mittelalter-Gesellschaft letztlich so tatkräftig wie erfolgreich von westlichen Bündnispartnern – allen voran den USA – unterstützt wurden.

Sie haben den Krieg gewonnen

Ja und spätestens seitdem die Kinder der Mudschahedin, die Taliban, im Handstreich – man möchte fast sagen im Blitzkrieg – 20 Jahre an westlichen Demokratisierungs- und Modernisierungsbemühungen vom Tisch und auf die Müllhalde der Geschichte wischten, steht eines fest: „Sie haben den Krieg gewonnen und man wird mit ihnen reden müssen“, wie es der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nüchtern zusammenfasste.

Afghanistan nämlich, das ist kein Ort, es ist vielmehr eine Zeit. Dominiert von mittelalterlichen, fundamental-patriarchalen-Stammesgesellschaften und legitimiert durch ein ebenso rückständiges Religions- bzw. Islamverständnis, ist da nichts zu machen. Minds-and-Hearts sind nicht und nicht zu gewinnen. Da reden wir ganz einfach mehrere hundert Jahre an sozio-kultureller Entwicklung aneinander vorbei. (Was übrigens auch der Grund ist, warum viele afghanische Migranten hierzulande nicht verstehen wollen, was wir mit „Integration“ meinen).

Der Weg in die Staatengemeinschaft

Gleichzeitig scheinen die vergangenen 20 Jahre aber auch an den Taliban nicht gänzlich spurlos vorübergegangen zu sein. Für die Terrorfürsten der 1990er Jahre, die Musik, Spiel und Spaß als unislamisch verurteilten und selbst für Kinder unter Strafe stellten, wäre es nämlich schlicht undenkbar ihre Kämpfer feiern oder im Fitnesscenter und am Kirtag herumblödeln zu lassen. It’s 2021 (inshallah!)

Und auch die erste Pressekonferenz der Islamisten macht vorsichtig Mut. Frauenrechte, Meinungsfreiheit und Mitbestimmung aller Bevölkerungsgruppen waren da Thema, wenn auch unter fetten Scharia-Anführungszeichen.

Den Taliban scheint jedenfalls bewusst, dass der Erfolg ihres Regimes auch davon abhängen wird, Zugeständnisse zu machen und sich innerhalb des (ohnehin großzügigen) Rahmens der internationalen Staatengemeinschaft zu bewegen. Den Weg dorthin, kann man ihnen offensichtlich nicht aufzwingen, aber man kann ihn weisen.

Zeit realistisch zu werden: Her mit der Blackbox

Ersten Reaktionen aus China, Russland aber auch der EU lassen vermuten, dass man bereit ist, in der Afghanistan-Frage diesen Weg zu gehen. Weg vom gescheiterten, ideologischen Hinterhof-Kampf der Kalten-Krieger, hin zum Black-Box-Realismus. Wie die Afghanen ihr Land organisieren, das interessiert nicht mehr – es zählt einzig und allein, wie sich das Land der Afghanen am Parkett der Staatengemeinschaft bewegt. Nach 40 Jahren Chaos, möglicherweise ein vielversprechender Ansatz.

Mit nur 26 Jahren zieht Daniela Holzinger-Vogtenhuber erstmals in den Nationalrat ein. Bald als SPÖ-Rebellin bekannt, stellte sie sich mehrfach gegen den Klubzwang und trat letztlich erfolgreich für die Stärkung parlamentarischer Kontrollrechte ein. 2017 bricht sie endgültig mit ihrer ehemaligen Partei, kann ihr Mandat bei den vorgezogenen Neuwahlen jedoch behaupten. Diesmal parteiunabhängig über ein Ticket der Liste JETZT, wo sie zur „fleißigsten“ weiblichen Abgeordneten des Parlaments avancierte. Heute ist Holzinger-Vogtenhuber Seniorpartnerin einer Agentur für Politikberatung und leidenschaftliche eXXpress-Kolumnistin.