Wenn man mit alten Sozis über Politik redet, dann dauert es meist nicht lange, bis sein Name fällt: Bruno Kreisky. „Ja, da warma noch wer, da ist‘s mit dem Land bergauf gegangen. Bildung für alle, Befreiung der Frau, Wirtschaftsaufschwung, Vollbeschäftigung…“

Und tatsächlich liest sich die Leistungsbilanz der sogenannten Kreiskyjahre wie ein gewaltiger Modernisierungsschub – am grünen Tisch erkämpft.
Unter anderem von Leuten wie dem Hannes Androsch – Kreiskys Finanzminister und Vizekanzler.
Trotz seiner 83-Jahre gehört der heute aber keinesfalls zu jenen alten Sozis, die gerne in einer besseren Vergangenheit schwelgen. Vielmehr sorgt er sich um die Zukunft, und zwar um jene seiner Partei.

Sollte es dieser nämlich nicht gelingen, sich vom Rausch des linken-Lifestyle-„Tugendterrors“ zu befreien, wäre der nächste unvermeidliche Schritt, die Selbstverzwergung zur „politischen Sekte“, so Androsch in einem erst kürzlich im Profil erschienen Artikel.

Stein des Anstoßes ist da ein SPÖ-Parteitagsantrag, der schon im Juni beschlossen werden soll. Unter dem Titel „Selbstbestimmt. Sichtbar. Stolz.“ verlangen SoHo (Homosexuelle SozialdemokratInnen) und SP-Frauen, dass man etwa das Geschlecht auf offiziellen Dokumenten frei wählen können soll – ganz nach Tagesverfassung. Auch der Name soll unabhängig jedweder geschlechtlichen Zuordenbarkeit gewählt werden können.

DIE FRANZ (divers)

Die Franz, die biologisch zwar Frau ist, sich jedoch divers fühlt, das gerne im Reisepass stehen hätte, aber dennoch für sich ein weibliches Pronomen „beansprucht“, würde also zum Fall für die Standesämter (der Wikipedia-Eintrag zu „Nichtbinären Geschlechteridentitäten“ ist hier wirklich ein Fundus an Skurrilität).

Und warum das ganze? Weil man wisse, so die Begründung, „dass die Frage der Geschlechteridentität heute wichtiger denn je sei.“

Na ja. Wissen wir das wirklich? Ich meine, sind gerade in Zeiten einer Pandemie, in der Menschen – ob mit biologischem oder eingebildetem Geschlecht – ihren Arbeitsplatz verlieren, ihren Betrieb zusperren müssen, schwer erkranken oder sogar sterben, möglicherweise nicht doch andere Themen wichtiger-denn-je?

Kann man gerade in so einer Zeit die Möglichkeit zur freien Wahl des Geschlechts, und zwar ohne jegliches Gutachten, ohne Attest, überhaupt fordern und sich dabei noch als politische Kraft ernst nehmen?

Statistisch gibt’s für Österreich dazu nicht viel. Ein Blick auf das Impf-Dashboard des Sozialministeriums genügt jedoch, um festzustellen, welcher Stellenwert der Frage der Geschlechteridentität tatsächlich beizumessen ist:

Unter den bisher 2,4 Mio. Menschen, denen zumindest eine Impfdosis verabreicht wurde (Stand: 05. Mai) haben ganze fünf Personen angegeben sich keinem binären Geschlecht – also Mann oder Frau – zuordnen zu wollen. Das sind 0,0002% aller bisher Geimpften.

Eine Größenordnung also, die außerhalb einer in sich geschlossenen und ebenso winzigen wie radikalen Politblase schlicht keinerlei Relevanz hat. Ja für eine staatstragende Partei keinerlei Relevanz haben darf.

FOR THE MANY NOT THE FEW

Doch bitte nicht falsch verstehen, natürlich braucht es einen „würdevollen“ Umgang mit allen Menschen, wie auch Hannes Androsch richtigerweise sagt. Sowieso sind die unveräußerlichen Menschenrechte jedes und jeder Einzelnen zu schützen – insbesondere von SozialdemokratInnen die hier historisch von jeher in einer Vorreiterrolle waren.

Aber es braucht auch den politischen Mut Prioritäten zu setzen: „for the many, not the few“, wie es der einstige Held des linken Flügels der Labour Party, Jeremy Corbyn, ausdrückte.

Und wenn diese Mehrheit ganz einfach nicht verstehen will, ja aus tiefster innerer Überzeugung heraus nicht verstehen kann, was das alles eigentlich soll, dann hat die Partei eine Entscheidung zu treffen und schlicht und ergreifend die Frage zu beantworten, wen sie vertreten möchte. Oder viel mehr noch, von wem sie als politischer Ausdruck ihrer Lebensrealität wahrgenommen werden möchte.

Von einer Handvoll Personen, nicht binärer Geschlechteridentität oder von Millionen ArbeitnehmerInnen, von hunderttausenden AlleinerzieherInnen, von prekär Beschäftigten…

Diese Frage zu klären, wird man den GenossInnen nicht abnehmen können, aber sie wären gut beraten es bald zu tun.

Mit nur 26 Jahren zieht Daniela Holzinger-Vogtenhuber erstmals in den Nationalrat ein. Bald als SPÖ-Rebellin bekannt, stellte sie sich mehrfach gegen den Klubzwang und trat letztlich erfolgreich für die Stärkung parlamentarischer Kontrollrechte ein. 2017 bricht sie endgültig mit ihrer ehemaligen Partei, kann ihr Mandat bei den vorgezogenen Neuwahlen jedoch behaupten. Diesmal parteiunabhängig über ein Ticket der Liste JETZT, wo sie zur „fleißigsten“ weiblichen Abgeordneten des Parlaments avancierte. Heute ist Holzinger-Vogtenhuber Seniorpartnerin einer Agentur für Politikberatung und leidenschaftliche eXXpress-Kolumnistin.