Von einer geplanten „Totalüberwachung der individuellen Mobilität“ spricht der Wirtschaftswissenschaftler und Autor Norbert Häring, und von einem „bedenklichen Menschen- und Gesellschaftsbild der Verantwortlichen“. Es geht um ein zurzeit noch kaum beachtetes Smart-City-Projekt der Stadt Wien. Eigentlich hätte es schon vor zwei Jahren umgesetzt werden sollen, doch wurde es dann durch die Corona-Pandemie unterbrochen.

Wer sich in Wien klimafreundlich verhält, der soll künftig digitale Plus-Punkte erhalten – sogenannte „Kultur-Token“. Diese „digitale Gutschrift“ verschafft einem dann Gratis-Zutritt zu Kultur-Events. Zu diesem Zweck werden alle Bewegungsdaten, die man zurückgelegt, von einer „Token-App“ aufgezeichnet. Sie misst die zurückgelegten Wege, und belohnt jeden, der zu Fuß geht, Fahrrad fährt oder Öffis nutzt. Wie man sich fortbewegt, ob zu Fuß oder mit dem Auto, das erkennt die App angeblich „automatisch“.

Die App berechnet, wie CO2-schonend man sich fortbewegt

Die Stadt Wien spricht stolz vom „weltweit 1. Kultur-Token“, einer Art „digitalem Bonus-System, das mit einer Smartphone-App umweltbewusstes Verhalten mit kostenlosem Zugang zu Kultur-Veranstaltungen belohnt“. Die App berechne „anhand von Daten des Umweltministeriums, wieviel COSie im Vergleich zu einer normalen Autofahrt eingespart haben.“ Vorerst wird das „digitale „Anreizsystem“ in einer geschlossenen Gruppe von 2000 Personen getestet – im ersten Halbjahr 2023, wie die Stadt in einem Tweet berichtet:

Norbert Häring: Nur verstärkte Überwachung könnte Missbrauchen verhindern

Norbert Häring kann kaum glauben, was er da liest. Der „Handelsblatt“-Wirtschaftsredakteur  warnte bereits in mehreren Büchern vor der Abschaffung des Bargelds. Angesichts dessen, was Österreichs Bundeshauptstadt nun vorhat, wird ihm unheimlich. Gleichzeitig sei klar, wie realitätsfremd das alles ist. „Dass die Voraussetzungen nicht stimmen, scheint die Stadt nicht zu stören“, schreibt Häring. „Die Alternativ zu einem Spaziergang im Park oder einer Fahrradtour ist nicht die Autofahrt. Dieses Problem lässt sich kaum lösen, aber wenn es einem nur darum geht, einen Vorwand zu finden, die Bürger zu überwachen und ihr Verhalten fernzusteuern, macht das nichts“, bemerkt er sarkastisch.

Der Missbrauch der App ist naheliegend: „Man will sich auch explizit nicht an der Möglichkeit stören, dass jemand sein Smartphone dem Gassi gehenden Familienmitglied oder Nachbarn mitgibt. Wie viele Smartphones wird wohl der Sportradler jedes Mal mit auf seine lange Tour nehmen dürfen?“ Für Norbert Häring steht aber fest: Solche Probleme werden später, „wenn der Kultur-Token einmal fest etabliert ist, durch verstärkte Überwachung gelöst“.

Einstieg in umfassende Kontrolle: Wohlverhalten im Sinne von Bürokraten

Auch die Kontrolle soll schrittweise ausgeweitet werden: „Bei Verkehr und Kultur soll es nicht bleiben. Vielmehr soll das Projekt den Einstieg in ein vielschichtiges Wien-Token darstellen, ein Prämienmodell, das umfassend Wohlverhalten im Sinne der Bürokraten belohnt, und dafür natürlich das gesamte Verhalten überwacht.“

Auf dem Weg zur totalen Überwachung?Getty

Häring verweist auf ein ähnliches Projekt in Rom. Was beide Städte vorhaben, lässt ihn den Kopf schütteln: „Es ist ein bedenkliches Menschen- und Gesellschaftsbild der Verantwortlichen, das sich offenbart, wenn sie es für einen Dienst am Stadtvolk halten, Bürger dafür zu bezahlen, dass sie sich auf Schritt und Tritt überwachen lassen, nur um einen absehbar sehr schlecht funktionierenden – wahrscheinlich auch nur vorgeschobenen – Anreiz zu umweltbewusstem Verkehrsverhalten zu setzen. Für die Manager des Silicon Valley und die mit diesen verbandelten Digitalisierungsfreaks in der öffentlichen Verwaltung ist es leider typisch.“

Ähnlich sieht das Wolfie Christl, Leiter des Forschungsinstituts Cracked Labs. „Ich bin  dafür, diese vor Jahren gestarteten seltsamen Blockchain/Crypto-Projekte der Stadt Wien so tief als möglich zu begraben, insbesondere das sogenannte ‚Kultur-Token‘“, erklärt er auf Twitter. „Ernsthaft, das Ding ist fehlgeleitet, peinlich, eine Schnapsidee, hat null mit gemeinwohlorientierter Digitalisierung zu tun.“ Das Ganze gehöre „eingestampft (und aufgearbeitet)“. Es gäbe genügend andere Maßnahmen, um „die ökologische Fortbewegung“ zu fördern. „Die Normalisierung des Zugriffs auf individuelle Verhaltens- und Bewegungsdaten gehört nicht dazu.“