Der Brigadegeneral a.D. Helmut W. Ganser und ehemalige Militär-Berater Deutschlands sieht im Winter ein Fenster für Friedensverhandlungen. „Die militärpolitische Vernunft spricht für eine baldige Beendigung dieses verlustreichen Krieges“. Ein Sieg Kiews, an den einige Militärexperten glauben, sei nämlich unrealistisch, unterstreicht Ganser im deutschen ipg-journal für internationale Politik. Nach den anfänglichen Misserfolgen Moskaus in der Ukraine hätten einige Beobachter „überreagiert“ und die Sieges-Chancen der Ukraine überschätzt.

Helmut W. Ganser, Jahrgang 1948, war ab 1992 im Führungsstab der deutschen Streitkräfte tätig.Wiki Commons/Heinrich-Böll-Stiftung Berlin

Weitere Gegenoffensiven Kiews verlustreich und erfolglos

Zurzeit hält Russland deutlich unter 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets besetzt. „Versuche weiterer raumgreifender Gegenoffensiven Kiews dürften aber nicht nur extrem verlustreich, sondern auch erfolglos sein“, schreibt Ganser. Die russische Armee habe nach erheblichen Geländeverlusten und dem Rückzug auf das Ostufer des Dnepr „die Front wesentlich verkürzt und konsolidiert. Der breite Dnepr stellt eine erhebliche Barriere für mögliche Gegenangriffsoperationen der ukrainischen Streitkräfte im südlichen Teil der Front dar.“

Hoher Munitionsverbrauch, Erschöpfung auf beiden Seiten

Zurzeit herrsche eine Patt-Situation, es drohe ein längerer Abnutzungs- und Stellungskrieg mit zeitweisen Stößen und Gegenstößen. Gleichzeitig ist der Verbrauch an Munition auf beiden Seiten ungewöhnlich hoch. Der Westen stoße hier ebenfalls an Grenzen.

Der hohe Munitionsverbraucht bringt den Westen an seine Grenzen.

„Auch die westliche Seite kann nicht weiter in die Sperrbestände der Munitionsdepots ihrer Streitkräfte eingreifen und unbegrenzt liefern. Dies gilt in besonderem Maße für Deutschland. Auch in den USA stoßen die Munitionsvorräte für die M777-Haubitzen und die weitreichenden HIMARS-Raketenwerfer an Grenzen“, sagt der Diplom-Psychologe und -Politologe. Er war unter anderem Stellvertretender Leiter der Stabsabteilung Militärpolitik im Verteidigungsministerium sowie militärpolitischer Berater des deutschen Ständigen Vertreters bei der NATO in Brüssel.

Ängste vor nuklearer Eskalation unbedingt ernst nehmen

Ebenfalls für Verhandlungen spricht die Gefahr einer nuklearen Eskalation. Die werde zwar von beiden Seiten nicht gewünscht, doch das Risiko bestehe nach wie vor. „Von nuklearer Entspannung kann noch nicht geredet werden“. Auch US-Präsident Joe Biden hatte vor einem atomaren Inferno gewarnt und verwendete den Begriff „Armageddon“. „Warnungen vor einer nuklearen Eskalation als übertriebene Ängste darzustellen, ist verantwortungslos.

Die nukleare Bedrohung darf nicht heruntergespielt werden.APA/GETTY

Daher sollten nun unbedingt Friedensgesprächen stattfinden, freilich hinter verschlossenen Türen. Die Schlüssel dafür lägen bei Moskau und Washington, die beiden eigentlichen Akteure. Ohne die westliche Unterstützung hätte Kiew den Krieg schon längst verloren. „Auf der geopolitischen Ebene handelt es sich um einen russisch-amerikanischen Konflikt.“

Der Krieg ist sehr verlustreich für die Ukraine.

Ganser widerspricht Kritikern von Verhandlungen

Ein bemerkenswertes Statement habe hier auch der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs im Pentagon, General Mark Milley, abgegeben: Russland und die Ukraine müssten wechselseitig anerkennen, „dass ein militärischer Sieg nicht erzielbar ist und die Wintermonate für Verhandlungen genutzt werden sollten.“

Es gibt aber auch Kritiker dieses Vorschlags, denen Ganser widerspricht. „Die immer wieder vernehmbare Argumentation, der Westen müsse mit Hilfe der Ukraine das russische Militär in die Knie zwingen, weil Putin sonst als Nächstes die NATO-Osteuropäer angreifen werde, kommt schlicht analyseschwach daher.“ Nach diesem Abnützungskrieg werde Russland erst einmal mit sich selbst beschäftigt sein und seine Militärreform durchführen. Hinzu komme der Kräfteaufbau der NATO an ihrer Ostflanke.

NATO-General Jens Stoltenberg spricht sich zurzeit gegen Verhandlungen aus.APA/AFP/Kenzo TRIBOUILLARD

„Das verbreitete Gegenargument, unter anderem vom NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Moskau sei nur an einer operativen Pause interessiert, um im Frühjahr wieder anzugreifen, mag zutreffen. Aber auch die ukrainische Armee würde mit westlicher Hilfe eine Waffenpause nutzen, um ihre Verteidigungs- und Gegenangriffsfähigkeiten zu verstärken“.