Die Klimaziele der EU sind ambitioniert. Die deutsche Politik stellt sich hinter diese Vorgaben – nur fehlen zurzeit die Mittel, um sie auch umzusetzen, kritisiert Karl-Ulrich Köhler, der Vorstandsvorsitzende der Stahl-Holding Saar (SHS), zu der die Dillinger Hütte und Saarstahl gehören. Die Zukunft der Stahlindustrie in Deutschland sieht er nun gefährdet – mit weitreichenden Folgen: Die Branche spielt eine Schlüsselrolle für die industriellen Wertschöpfungsketten. Autoindustrie und Maschinenbau  hängen etwa unmittelbar am Stahl.

SHS: Dreh- und Angelpunkt für Produktion von grünem Stahl nach Frankreich verlegt

Köhler zufolge stehe man “am Anfang einer Zeitenwende für die Stahlindustrie”. Die Herausforderungen der Klimaneutralität seien gewaltig, ebenso die Komplexität des Vorhabens – doch es fehlen die Rahmenbedingungen zur Umstellung auf grünen Stahl. Dafür braucht man sogenannte Direktreduktionsanlagen und Elektrolichtbogenöfen. “Diese Anlagen werden nicht zwingend in Deutschland stehen”, prognostiziert Köhler. Stattdessen ziehe es die Produktion an Standorte, an denen CO2-freie Energie günstig und massenhaft verfügbar ist.

Die SHS etwa hat hat kürzlich die Werke Ascoval und Rail Hayage in Frankreich vom Konkurrenten Liberty Steel übernommen. Der Strom kommt dort aus den französischen Atomkraftwerken. Beide Werke ermöglichen Köhler zufolge “die Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit ganz im Sinne unseres laufenden Transformationsprozesses”. Ascoval werde Dreh- und Angelpunkt für die Produktion von grünem Stahl werden. Der dortige Elektro-Lichtbogenofen ermöglich die Produktion von Spitzenstahl mit einer CO2-neutralen Bilanz.

Die Politik verschärft die Zielvorgaben, ohne sich um die Realisierung zu kümmern

Trotz dieser Entwicklung finde ein “absurd zu nennender Zielsetzungswettbewerb der Politik” statt. Nachdem die Europäische Union scharfe Klimaziele verabschiedet und diese weiter verschärft habe, tue sich Deutschland als Musterschüler hervor, indem es das Ziel noch einmal um fünf Jahre vorgezogen und in 2030 auf minus 65 Prozent angepasst hat: “Für energieintensive Industrien wie die Stahlindustrie war schon das alte Ziel eine beträchtliche Herausforderung. Jetzt bedeutet das für uns eine Reduktion von minus 39 Prozent anstatt bisher angenommener minus 25 Prozent gegenüber 2020“, unterstrich Köhler. Es brauche vielmehr einen Realisierungs- statt eines Zielsetzungswettbewerbs.

Zwar testen bereits alle Hersteller neue Produktionsverfahren, doch müsste diese auch in den industriellen Maßstab überführt werden. Rund 30 Milliarden Euro werde die Umstellung in Deutschland nach Schätzung der Bundesregierung kosten. Der Industrie fehlt das Geld dafür, die bisherigen Förderzusagen reichen bei Weitem nicht aus, wie Köhler unterstreicht. Der deutschen Stahlindustrie fehlten in Summe 130 Terrawattstunden aus erneuerbaren Energien, wie die branche erst kürzlich erklärte. Doch nicht nur die umweltfreundliche Stromerzeugung dafür wurde noch nicht ausgebaut, es gibt auch keine Infrastruktur zum Energietransport.

Abzug in Drittländer ohne vergleichbare Klimaschutzauflagen droht – samt Verlust von Jobs

Die Politik müsse den Transformations-Weg für Stahlunternehmen, die derzeit auf der klassischen Hochofenroute produzieren, langfristig plan- und finanzierbar machen, unterstreicht. “Sonst wandert die Erzeugung aus Deutschland ab“, unterstrich Köhler. Dann sei nichts gewonnen, wenn die Industrie in Drittländer ohne vergleichbare Klimaschutzauflagen ausweiche. Und: “Wenn wir die Hochöfen verlieren, gehen auch in anderen Branchen viele Arbeitsplätze verloren.”