Im Fantasieland Grandislande bricht im Jahr 2045 einer Flutkatastrophe aus. Gleichzeitig wird ein Angriff mit biologischen Waffen vermutet. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist zerbrochen, weil die Menschen nur mehr in ihren je eigenen Wirklichkeitsblasen leben, in denen alles passiert, wann und wo man will, ohne es außerhalb der Gruppenblase teilen zu können. Die Armee muss 200.000 womöglich infizierte Franzosen aus dem Katastrophengebiet evakuieren, wogegen sich die meisten aber wehren. Über Jahre hinweg muss die Armee die sicheren Blasen “desaktivieren” und die „Realität wiederherstellen“.

Das klingt nach einem dystopischen Zukunftsroman eines besonders originellen Science-Fiction-Autors, und das ist auch nicht ganz falsch. Erdacht wurde dieses Szenario tatsächlich von einer Handvoll Autoren, nur verfassten sie das nicht für die Öffentlichkeit, sondern für die französische Armee. Es klingt aufs Erste nach einem Scherz, aber die französische Armee hat vor eineinhalb Jahren ein Projekt gestartet, bei dem Schriftsteller mögliche Kriegsszenarien in den kommenden 50 Jahren entwerfen, die dem Militär selbst nicht eingefallen wären. Die Autoren sollte die Armee mit ihren Gedankenexperimenten herausfordern – so der Auftrag – und ihr Angst einjagen.

Eine eigene Agentur wurde gegründet, um die Armee zu modernisieren

Zuständig für das Projekt ist die kürzlich gegründete Agence de l’innovation de défense, eine neue Abteilung der französischen Armee, die Frankreichs Verteidigung modernisieren soll. Zwei Millionen Euro blättern Frankreichs Streitkräfte für diese Kooperation mit der Kunst hin. Die Autoren sollen sich mit Herausforderungen für die Soldaten befassen, die heute unvorstellbar sind. Sie bilden das sogenannte Red Team und werden von Wissenschaftlern, Designern, Zeichnern, Drehbuchautoren unterstützt.

Science-Fiction-Autoren denken außerhalb des für gewöhnlich VorstellbarenFrançois Schuiten

Aus tausende Bewerbungen wurden unter anderem der Schriftsteller Xavier Mauméjean, der Comicautor Xavier Dorison, der Krimiautor DOA, die Space-Oper-Autoren Laurent Genefort und Romain Lucazeau ausgewählt andere bleiben anonym. “Science-Fiction-Autoren und -Zeichner gehörten zu den kreativsten Geistern weit und breit“, sagt der Vier-Sterne-General Emmanuel Chiva, wie die Tageszeitung “Welt” schreibt. Chiva leitet die neu gegründete Abteilung für innovative Verteidigung. “Wir müssen aus unserem mentalen Gefängnis ausbrechen.” Ein großer Fan des Red Teams ist Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der gleichzeitig als Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte der gemeinsamen Nachrichtengruppe angehört, in der man sich über unterschiedliche Horrorszenarien austauscht.

Ein Chip im Gehirn eines Marieoffiziers löst eine Schlacht aus

Das Red Team befasst sich nicht nur mit Ausrüstung oder Waffen, sondern vor allem mit allmöglichen geopolitischen und gesellschaftlichen Konstellationen. Die meisten ihrer Szenarien fallen unter Militärgeheimnisse, aber zwei davon wurden jetzt vom französischen Militär der Öffentlichkeit präsentiert, um diese zu sensibilisieren. Neben jenem vom Fantasieland Grandislande ist da noch ein anderes, wo einem französischen Marineoffizier ein Chip im Gehirn eingesetzt, der daraufhin auf ein befreundetes Schiff schießen lässt. Die beiden Szenarien kann man in filmischer Kurzform auf der Internetplattform des Projekts besichtigen.

Das Prinzip des Red Teaming wurde im 19. Jahrhundert in der Habsburgermonarchie erfunden. Damals dachte man sich Tischspiele aus: Die eigenen Figuren trugen blaue Uniformen, die Feinde rote. Eigene Leute übernehmen die Rolle des Feindes, um die eigenen Fähigkeiten zu testen. Unter Ronald Reagan wurde das Red Teaming wiederbelebt.