Die EU prüft nach Angaben aus Diplomatenkreisen die Möglichkeit von gemeinsamen Munitionskäufen – und die sind von nicht gerade geringem Umfang. Estland hat seinen Partnern folgenden Vorschlag vorgelegt: Die Mitgliedstaaten sollten vier Milliarden Euro bereitstellen, um den Kauf von einer Million 155-mm-Granaten zu ermöglichen. Bereits am Montag soll das Thema auf der Tagesordnung des Außenministertreffens in Brüssel stehen.

Bei Kaliber 155 mm handelt es sich um eine bestimmte Größe für Munition für Artilleriegeschütze. Innerhalb der NATO ist diese Munition genormt, damit sich die Munition mit Geschützen verschiedener Länder verwenden lässt.

Ein Soldat der französischen Armee macht eine 155-mm-Patrone mit einem Punktzünder scharf.

Charles Michel klar hinter Estlands Vorschlag

Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wird am Montag, kurz vor dem ersten Jahrestag von Russlands Ukraine-Invasion, an dem Treffen teilnehmen und voraussichtlich weitere Waffenlieferungen fordern. Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas vergleicht das gemeinsame Vorgehen bei der Munition mit dem Kauf von Impfstoffen während der Covid-19-Pandemie.

Estlands Premierministerin Kaja Kallas ist mit dem Vorschlag vorgeprescht.APA/AFP/JOHN THYS
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wird ebenfalls am Montag in Brüssel erwartet.APA/AFP/Ukrainian presidential press-service/Handout

Zwar werde für Montag noch keine Entscheidung in dieser Frage erwartet, wie mehrere EU-Diplomaten unterstreichen. Es seien noch viele Punkte offen. Allerdings erhält Estlands Vorstoß bereits lautstarke Unterstützung, und zwar von der EU-Spitze. “Ich bin sehr für den estnischen Vorschlag, die europäische Verteidigungsindustrie zu mobilisieren, um gemeinsam Munition zu bestellen, zu kaufen und zu produzieren”, versicherte der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, in einem Interview mit der französischen Tageszeitung “Libération”. Er werde dazu “operative Vorschläge” unterbreiten.

Der Präsident des EU-Rats Charles Michel im Gespräch mit Estlands Regierungschefin Kaja KallasAPA/AFP/Ludovic MARIN

Impfstoffe von EU-Kommission gekauft, nicht von den Mitgliedsstaaten

Bereits während der Covid-19-Pandemie wurden Impfstoffe nicht von den einzelnen Mitgliedsstaaten, sondern von Brüssel unter EU-Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen bestellt. Ursprünglich hatten sich vier Gesundheitsminister für den Impfstoff-Kauf zusammengetan, wurden aber dann von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Von der Leyen zurückgepfiffen. Der gemeinsame Impfstoff-Kauf verlief alles andere als erfolgreich. Nicht nur geriet die EU beim Beschaffen der Impfstoffe global komplett ins Hintertreffen, das Ganze hatte auch noch ein böses Nachspiel für Ursula Von der Leyen, weil sie dabei möglicherweise illegale Absprachen mit Pfizer gemacht hat.

Von der Leyens Pfizer-Deal hat die Ermittler auf den Plan gerufen. Er könnte ein rechtliches Nachspiel haben.APA/AFP/POOL/JOHN THYS

Von Österreichs Neutralität bleibt nichts – außer die Bündnisfreiheit

Von all dem lässt sich Brüssel nun anscheinend nicht beirren. Noch viel brisanter ist aber für Österreich dieser Munitionskauf mit Blick auf die Neutralität. Mit dem EU-Beitritt wurde zwar – öffentlich kaum thematisiert – das Verständnis der Neutralität stark reduziert. Gemäß der Homepage des österreichischen Parlaments gehört dazu aber immer noch, keine Waffen an eine Konfliktpartei zu senden. Wörtlich heißt es dort: “In einem bewaffneten Konflikt leistet ein neutraler Staat keine direkte oder indirekte militärische Unterstützung an Konfliktparteien.”

Umfragen belegen: Die Mehrheit in Österreich will an der Neutralität festhalten. Sie aufzugeben, kommt für die meisten Österreicher nicht in Frage. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit Österreich überhaupt eigenmächtig seine Neutralität neu definieren oder komplett aushöhlen kann. Es geht hier auch um völkerrechtliche Verpflichtungen und Verlässlichkeit gegenüber anderen Staaten. Sollte Österreich gemeinsam mit anderen Staaten Waffen für eine Kriegspartei kaufen, blieben von Österreichs Neutralität nur zwei Punkte übrig: keine Stationierung fremder Truppen und kein Beitritt zu einem Militärbündnis. Das ist deutlich weniger als das, was offiziell noch gilt.