Erpresst uns Putin? Europa braucht mehr Gas, aus Russland kommt zu wenig
Die Gaspreise steigen in astronomische Höhen. Es wächst die Angst vor dem Winter. Europa braucht dringend mehr Gas zu niedrigeren Preisen. Nun feiern Russlands Medien Putin als Retter. Doch Europa wirft dem Kreml vor, Gaslieferungen bewusst zu verzögern – zwecks Genehmigung von North Stream 2.
Mittlerweile steigen die Energiepreise in astronomische Höhen, von Preisrekord zu Preisrekord, ganz besonders beim Gas. Hier hat sich der Preis seit Jahresbeginn tatsächlich verzehnfacht. Schon bald könnte nun auch andere Waren – von Ziegelsteinen bis Lebensmitteln – erheblich teurer werden. Erst kürzlich hat die Österreichische Nationalbank ihre Inflationserwartung nach oben korrigiert. Europa sieht sich in dieser Situation von Vladimir Putin in Geiselhaft genommen und lastet den gigantischen Gaspreis teilweise auch ihm an.
Russland wollte bisher keine zusätzlichen Gasmengen durch Pipelines in der Ukraine schicken
Mit dem doppelten Ausstieg von Atom- und Kohlekraft ist Europas Abhängigkeit vom russischen Gas gestiegen. Doch gerade jetzt, wo der Kontinent das Gas aus Russland dringender braucht denn je, liefert Gazprom nur zögerlich und in zu geringen Mengen – trotz der Rekordpreise auf dem Markt. Dabei könnte Moskau die Gasliefermenge durchaus ausweiten, wie viele Experten meinen. Die Folgen: Die europäischen Gasvorräte befinden sich auf dem niedrigsten Stand für diese Jahreszeit seit mehr als zehn Jahren, und Russland lässt sich hohe Geldsummen an Einnahmen entgehen.
Die Lösung des Rätsels: Moskau setzt Europa absichtlich unter Druck und treibt den Gaspreis in die Höhe, um eine rasche Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu erzwingen. Diesen Verdacht äußert man nun offen in Europa. Zurzeit fehlt noch die Betriebsgenehmigung für Nord Stream 2 durch die deutsche Bundesnetzagentur. Der technischen Inbetriebnahme steht ein noch ausständiges Genehmigungsverfahren im Weg, Russland will, dass das schneller geht.
Nord Stream 2 wurde zum Spaltpilz innerhalb der Europäischen Union
Nord Stream 2 ist hochumstritten, primär aus geopolitischen Gründen. Der Bau wurde zum Spaltpilz innerhalb der EU. Polen, die baltischen Staaten, die Ukraine und sämtliche osteuropäische Länder sehen darin ein Instrument russischer Erpressung, das die eigene Sicherheit gefährdet. Die EU lehnt das Projekt ebenfalls ab und selbst in Deutschland wurde es von führenden Abgeordneten der Union, Grünen und FDP kritisiert. Die deutsche Bundesregierung wehrte sich dennoch gegen einen Baustopp und berief sich dabei auf Prognosen, denen zufolge Europa einen Mehrbedarf an Erdgas von mindestens 100 Milliarden Kubikmeter pro Jahr haben werde.
Putin: Für einen billigeren Gastransport steht Nord Stream 2 bereit
In Russland beschäftigt das Thema ebenfalls Öffentlichkeit wie Politik. Die explodierenden Gaspreise und die Kritik der EU an der Gasgroßmacht Russland sind für Präsident Vladimir Putin seit Tagen Chefsache. “Europa läuft vor Kälte blau an ohne russisches Gas”, titelte die Moskauer Tageszeitung “Nesawissimaja Gaseta”. Andere russische Medien feiern den 69-Jährigen angesichts der “Panik auf dem Gasmarkt” schon als möglichen Retter vor einem drohenden Kälteschock der Europäer.
Putin wehrt sich kategorisch gegen die Vorwürfe. Der Staatskonzern Gazprom könne helfen, nur solle das für ihn nicht zu teuer werden. Russland sei offen für Angebote der Großabnehmer aus der EU. Kurz: Nord Stream 2 steht für den günstigen Gastransport bereit! Das würde die Energiekrise entspannen – womit sich Putins Kritiker bestätigt sehen. . .
Putin sieht die Schuld bei der Lage auf dem Weltmarkt und bei der Energiepolitik der EU
Doch Putin gibt der Lage auf dem Weltmarkt und der verfehlten Energiepolitik der EU die Schuld an den zu hohen Preisen. Trotz Russlands Warnungen sei sie von Langzeitverträgen abgerückt und zum Handel an den Energiebörsen übergangenen. “Heute ist klar, dass diese Politik ein absoluter Fehler ist.”
Die Vorwürfe aus der EU, Russland manipuliere den Gaspreis, “um die Ostseepipeline Nord Stream 2 schneller mit Gas zu füllen, sind haltlos und absurd”, erklärte Rainer Seele, bis vor Kurzem Chef der OMV und nunmehr Präsident der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer (AHK). Gazprom liefere die vereinbarten Mengen, was auch Kanzlerin Angela Merkel in dieser Woche hervorhob. “Wer an kostengünstigem Gas für deutsche und europäische Haushalte und Industriebetriebe interessiert ist, sollte auf Kooperation statt auf Konfrontation mit Moskau setzen”, sagte Seele.
Doch selbst wenn Russland nicht für den Anstieg der Energiepreise verantwortlich ist, stellt man sich in Europa die Frage, ob das Land nicht vielleicht absichtlich Möglichkeiten ungenutzt lässt, damit sich die Lage entspannt. Noch macht Gazprom die Ventile nicht auf. Zuerst müssten die eigenen Speicher im Land aufgefüllt werden, weil ein womöglich kalter Winter bevorstehe, teilte das Unternehmen mit.
Der sich weltweit verschärfende Wettbewerb um verfügbare Ladungen von Flüssigerdgas erhöht ebenfalls den Preis. So ist etwa in Asien die Nachfrage nach Gas als Alternative zu der umweltbelastenden Kohle stark angestiegen.
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