Top-Ökonomin attackiert Zentralbanken: Es droht anhaltende Rekordinflation
“Die Situation ist extrem gefährlich”, warnt Carmen Reinhart (66), Vizechefin der Weltbank. Eine neue Finanzkrise will die meistzitierte Ökonomin der Welt nicht ausschließen. Die Lage sei viel fragiler als in den 1970er Jahren. Die Zentralbanken hätten den Leitzins kräftiger erhöhen müssen – und es gibt noch andere Probleme.
Die Vizechefin der Weltbank, Carmen Reinhart, stellt den Zentralbanken ein vernichtendes Urteil aus. Die Inflation drohe zum Dauerproblem zu werden, sagt sie. Reinhart ist Expertin für Finanzkrisen und gehört zu den meistzitierten Wirtschaftswissenschaftlern der Welt.
Zentralbanken haben zu spät reagiert
“Die Zentralbanken haben es versäumt, rechtzeitig und angemessen auf die Inflation zu reagieren”, sagt Reinhart gegenüber dem “Spiegel”. Dies sei “eine der bitteren Parallelen zu den 1970er-Jahren”, als man nach der Steigerung des Ölpreises in eine Stagflation und anhaltend erhöhte Inflationsraten schlitterte.
Weltweit sei “die Zinswende viel zu gering. Unsere Studien zeigen, dass historisch gesehen, sobald es einen Wendezyklus gab, die Leitzinsen jedes Mal um mindestens drei Prozentpunkte gestiegen sind. Jetzt erwarten die Märkte einen Anstieg der Leitzinsen von null auf 1,25 oder 1,5 Prozent bis zum Jahresende. Wir sind also bestenfalls auf halbem Wege. Das Gefährliche daran ist, dass diejenigen, die Entscheidungen hinauszögern, die Saat für spätere, drakonische Maßnahmen legen.”
Zinswende könnte andererseits gefährlich enden
Andererseits seien viele Unternehmen “miserable Schuldner, es gibt viel zu viele Ramschanleihen. Die Banken haben die Kreditvergabe an viel zu laxe Bedingungen geknüpft. Es gibt also allein mit Blick auf die Finanzmärkte genug Gründe, warum eine Zinswende gefährlich enden könnte.” Eine neue Finanzkrise wie 2008 kann Reinhart “nicht ausschließen”. Sicher sei nur eines: “Die Situation ist viel fragiler als in den 1970er-Jahren, weil heute so viel von den Aktienmärkten abhängt.”
Es gebe aber einen bemerkenswerten Unterschied zu damals: Während es damals nur “einen einzigen Angebotsschock gab: die hohen Ölpreise”, komme es heute “überall zu Engpässen”.
Zentralbanken stehen längst unter Einfluss der Politik
Eine weitere gefährliche Entwicklung: “Der Einfluss der Politik auf die Zentralbanken ist enorm, vor allem in Europa. Die Zentralbanken sind nur auf dem Papier unabhängig. Die Verschuldung ist viel zu hoch, und die Zentralbanken handeln viel zu zögerlich. Die Situation ist extrem gefährlich.”
Carmen Reinhart, geboren 1955, ist seit 2020 Vizepräsidentin der Weltbank in Washington. Die in Havanna geborene Wirtschaftswissenschaftlerin erforscht seit Jahrzehnten Wirtschaftskrisen und Staatsschulden. 2009 veröffentlichte sie mit Kenneth Rogoff den Bestseller “Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen”. Investoren, Notenbanker und Politiker übersehen demnach oft die Warnzeichen einer schweren Rezession, weil sie glauben, diese seien mit früheren nicht vergleichbar.
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