Premiere in Kiew: Am Freitag begann ein Gerichtsverfahren mit der Anhörung von Oberleutnant Vadim Schischimarin. Er ist der erste russische Soldat, der wegen vermeintlicher Kriegsverbrechen vor Gericht steht. Am 28. Februar, kurz nach Beginn der Invasion, soll Schischimarin in dem nordöstlichen Dorf Tschupachiwka einen älteren Zivilisten (62) durch ein offenes Autofenster in den Kopf geschossen haben.

Es drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis

Der Angeklagte ist 21 Jahre jung und war Mitglied einer Panzerdivision. Im Falle eines Schuldspruchs drohen ihm bis zu 15 Jahre Gefängnis, wie die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Venediktova auf Facebook mitteilte. Mit Hilfe ausländischer Experten geht die Staatsanwaltschaft zurzeit den Vorwürfen gegen russische Truppen nach, die möglicherweise Tausende ukrainischer Zivilisten getötet, gefoltert und misshandelt haben.

Normalerweise werden Anklagen, wie jene gegen Schismarin in deren Abwesenheit erhoben. Hier ist es – eine Seltenheit – in kurzer Zeit gelungen, den beschuldigten Soldaten zu finden, der gegen internationale Regeln der Kriegsführung verstoßen haben soll.

Kurze erste Sitzung, großes Medieninteresse

Zahlreiche Journalisten und Kameraleute drängten sich am Freitag im kleinen Gerichtssaal des Bezirksgerichts Solomianskyi, wo Schischimarin hinter einem verglasten Raum Platz nahm – mit blau-grauem Kapuzenpulli, Jogginghose und einem rasierten Kopf, die Augen nach unten gesenkt. Einem Sprecher der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft zufolge handelte es sich bei der Anhörung um eine “vorbereitende Sitzung”.

Der erste Verhandlungstag dauerte kurz: 15 Minuten. Schischimarin wurde über seine Rechte belehrt und lehnte ein Schwurgerichtsverfahren ab. Am 18. Mai wird der Prozess fortgesetzt.

Tötung während der Flucht vor den Kämpfen

Schischimarin soll den unbewaffneten Zivilisten mit mehreren Schüssen seines Kalaschnikow-Gewehrs getötet haben. Der Ukrainer hat gerade ein Fahrrad am Straßenrand des Dorfes Tschupachiwka entlang geschoben. Gemäß Venediktovas Tweet ist Schischimarin gerade gemeinsam mit vier weiteren Soldaten in einem gestohlenen Auto vor den Kämpfen in der Region Sumy geflohen. “Einer der Soldaten befahl dem Feldwebel, den Zivilisten zu töten, damit er sie nicht den ukrainischen Verteidigern meldet”, heißt es in der Erklärung. “Der Mann starb auf der Stelle, nur ein paar Dutzend Meter von seinem Haus entfernt.”

In einem vom ukrainischen Sicherheitsdienst veröffentlichten Video gibt Schischimarin die ihm befohlene Tat zu. Er wird von dem ukrainischen Anwalt Victor Ovsyanikov vertreten, den das Gericht bestellt hat. ”Es ist sehr wichtig, sicherzustellen, dass die Menschenrechte meines Mandanten geschützt werden, um zu zeigen, dass wir ein anderes Land sind als das, aus dem er kommt”, sagte Ovsyanikov gegenüber der New York Times.

Prozess unter internationaler Beobachtung

Da die Augen der Welt auf die Ukraine gerichtet sind und hochrangige Völkerrechtsexperten die ukrainischen Staatsanwälte beraten, wird sich die Ukraine bei diesem und den folgenden Prozessen wahrscheinlich an internationale Regeln halten, sagte Robert Goldman, Experte für Kriegsverbrechen und Menschenrechte am Washington College of Law der American University,  gegenüber The Post. Kriegsgefangene haben das Recht auf einen Prozess vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht.

Die Ukraine treibt die Ermittlungen gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher voran, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass führende russische Politiker, darunter Präsident Wladimir Putin, jemals vor Gericht stehen werden. Das US-Außenministerium spricht seit März von konkreten Beweisen der US-Geheimdienste für Kriegsverbrechen durch russische Truppen. Das Büro der Generalstaatsanwältin Iryna Venediktova untersucht zurzeit mehr als 10.700 mögliche Kriegsverbrechen, an denen mehr als 600 Verdächtige beteiligt sind, darunter russische Soldaten und Regierungsbeamte.

Viele der mutmaßlichen Gräueltaten kamen im vergangenen Monat ans Licht, nachdem die Moskauer Streitkräfte ihren Versuch, Kiew einzunehmen, beendet und sich aus der Umgebung der Hauptstadt zurückgezogen hatten.