Bei der Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei ist ein Streit bereits um Teilergebnisse ausgebrochen. Mehrere Stunden nach Schließung der Wahllokale sahen staatliche Medien den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vorne, während die Opposition mit ihrem Spitzenkandidaten Kemal Kilicdaroglu die Führung für sich reklamierte. Vorläufigen Zahlen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge schrumpfte Erdogans Vorsprung im Laufe des Abends aber.

Fußgänger spazieren an den Wahlkampfplakaten der beiden Kontrahenten vorbei.Umit Turhan Coskun/NurPhoto via Getty Images

Istanbuler Bürgermeister: AKP verzögert bewusst Auszählung

Die türkische Opposition warf der Regierungspartei taktische Manöver bei der Stimmauszählung nach den Wahlen vor. In Hochburgen der Opposition lege die islamisch-konservative AKP bewusst Einspruch gegen die Ergebnisse ein, sagte der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der größten Oppositionspartei CHP am Sonntagabend in Ankara. Dadurch werde die Auszählung langsamer gemacht, und das Ergebnis falle zunächst zugunsten der Regierung aus.

Der Bürgermeister der Stadt Istanbul, Ekrem Imamoglu (l.), und der Bürgermeister der Stadt Ankara, Mansur Yavas (r.)APA/AFP/Adem ALTAN

Nach den ihnen vorliegenden Zahlen zeichne sich bei der Regierung ein Abwärtstrend ab, “das ist eindeutig”, sagte Imamoglu. Der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas, sagte unter Berufung auf Wahlprotokolle, Oppositionsführer Kilicdaroglu liege mit rund 47,4 Prozent knapp vorne. Präsident Erdogan komme demzufolge auf rund 46,8 Prozent der Stimmen. Rund 92.000 Wahlurnen von insgesamt rund 192.000 seien ausgezählt. Er gehe davon aus, dass die Präsidentenwahl schon in der ersten Runde entschieden werde.

VDP-Chef und Erdogan-Kontrahent bei der Präsidentschaftswahl Kemal Kilicdaroglu während einer Kundgebung in Kocaeli am 28. April 2023.APA/AFP/Yasin AKGUL

Regierung kritisiert "diktatorische Haltung" der Opposition

Die türkische Regierung warf der Opposition indes eine “diktatorische Haltung” während der Stimmauszählung vor. Frühzeitig ein Ergebnis bekannt zu geben ist “politischer Raub”, sagte der Sprecher der regierenden AKP, Ömer Celik, am Sonntagabend.

Recep Tayyip Erdogan (l.) und sein Kontrahent von der Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu (r.)APA/AFP/Adem ALTAN

Anadolu meldete indes einen Stimmenanteil von rund 51 Prozent für Erdogan, vor Kilicdaroglu mit 43 Prozent. Allerdings bezogen sich die Zahlen nur auf etwas über 60 Prozent ausgezählte Stimmen, die zudem überwiegend aus Hochburgen der islamisch-konservativen Regierung stammten. Anfangs hatte Erdogan der Agentur zufolge nach 25,7 Prozent der ausgezählten Stimmen noch bei 54,3 Prozent gelegen.

Erdogan begrüßt Wahlbeisitzer im Wahllokal vor der Stimmabgabe.APA/AFP/POOL/UMIT BEKTAS
Kemal Kilicdaroglu gibt in einem Wahllokal in Ankara seine Stimme für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ab.APA/AFP/Adem ALTAN

Widersprüchliche Zwischenergebnisse liegen vor

Zahlen des oppositionsnahen Nachrichtenportals Anka zufolge lagen Erdogan und Kilicdaroglu nach Teilauszählungen fast gleichauf – und beide unterhalb von 50 Prozent. Kandidaten anderer Parteien kamen Anka wie Anadolu zufolge auf insgesamt etwa fünf Prozent der Stimmen.

Die meisten Umfragen hatten einen knappen Vorsprung Kilicdaroglus bei der Präsidentenwahl vorhergesagt, manchen von ihnen zufolge konnte er sich sogar Hoffnung auf einen Sieg in der ersten Runde machen.

Erdogan und seine Frau Emine Erdogan (r.) begrüßen die Menge bei der Vorstellung des Wahlmanifests der AK-Partei am 11. April.APA/AAFP/Adem ALTAN
Kilicdaroglu und seine Frau Selvi Kilicdaroglu (r.) winken ihren Anhängern während einer Kundgebung in Izmir zu.APA/AFP/Republican People's Party (CHP) Press Service/Handout

Beobachtern zufolge war die Wahlbeteiligung bemerkenswert hoch, die offizielle Zahl wurde jedoch noch nicht veröffentlicht. Bei der letzten landesweiten Wahl 2018 hatte der 69-jährige Erdogan mit 52,5 Prozent der Stimmen in der ersten Runde gewonnen, die Wahlbeteiligung lag bei über 86 Prozent.

Kampf um den Zustand der Demokratie

Erdogan regiert das Land mit seinen 85 Millionen Einwohnern seit zwei Jahrzehnten; seit 2003 zunächst als Ministerpräsident und seit 2014 als Präsident. Erdogan ist inzwischen der mächtigste Staatschef der Türkei seit Atatürk. Allerdings hat seine Popularität gelitten, unter anderem wegen der hohen Inflation, die die Lebenshaltung für viele Türken drastisch verteuert. Kilicdaroglu hatte angekündigt, die Türkei wieder zu einer parlamentarischen Demokratie zu machen, die Befugnisse des Präsidenten zu beschneiden und die Unabhängigkeit der Justiz zu sichern. Zudem will er Friedenssicherung zum zentralen Bestandteil seiner Außenpolitik machen.

Umfragen prognostizierten ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdogan (r.) und Kilicdaroglu (l.).APA/AFP/Republican People's Party (CHP) Press Service/Handout

“Wir beten zu Gott für eine bessere Zukunft für unser Land, unsere Nation und die türkische Demokratie”, hatte Erdogan (69) bei der Stimmabgabe in Istanbul gesagt. Sein Kontrahent, der 74-jährige Kilicdaroglu, lächelte, als er in Ankara seine Stimme abgab und unter dem Beifall der wartenden Menge auftauchte. “Ich spreche all meinen Bürgern, die zur Wahlurne gehen und ihre Stimme abgeben, meine aufrichtige Liebe und meinen