Jahrelang herrschte Eiszeit zwischen Israel und der Türkei. Von der einst engen Verbundenheit zwischen den beiden Staaten war unter dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan die längste Zeit nichts mehr zu bemerken. Einen Tiefpunkt erreichten die Beziehungen im Jahr 2010. Damals überfielen israelische Spezialeinheiten die Flottille Mavi Marmara, deren Ziel es war, die Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. In der Folge brach an Bord ein Kampf aus, bei dem neun türkische Aktivisten getötet wurden. Die Türkei wies daraufhin den israelischen Botschafter aus und stellte die militärische Zusammenarbeit mit Israel ein.

Nun ändern sich die Zeiten. Anfang März stattete der israelische Staatspräsident Isaac Herzog auf Einladung Erdogans der Türkei einen Besuch ab – um “die Beziehungen neu zu beleben”.

Erdogans eigenes Lager verurteilt Herzogs Besuch

Erdogan bezeichnete sich bisher als Verfechter panislamistischer Anliegen. Nun sieht er sich mit Gegenreaktionen seines eigenen Lagers konfrontiert, das den Besuch Herzogs scharf verurteilt.

Erdogan (r.) heißt Isaac Herzog (l.) willkommen.APA/AFP/Murat KULA

Entrüstet zeigte sich etwa die Internationale Union der Muslimischen Gelehrten (IUMS): “Wir waren überrascht über den offiziellen Besuch des Staatsoberhauptes der zionistischen Besatzungsmacht in unserem Heiligtum und unserem ersten Ziel, der Türkischen Republik, und über den offiziellen Empfang, den ihm die türkische Präsidentschaft bereitet hat”, heißt es in einer Erklärung. Die IUMS  wurde von Yusuf al-Quaradawi, dem ideologischen Führer der Muslimbrüder gegründet. Er ist zurzeit auch ihr Präsident. Die Union bezeichnete den Besuch sogar als “bedrohlich”, verwies aber gleichzeitig auf die “ehrenhafte Haltung der Türkei gegen die israelische Besatzung und Aggression”.

Islamisten versuchen eine Spaltung zu vermeiden

Erdogan wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einer Art politischer Führer der Islamisten. Er setzte sich für islamistische Anliegen ein. Laut Gallup’s Annual Index of Global Leaders war er der beliebteste muslimische Führer weltweit. Ein Frontalangriff auf Erdogan würde nun zu einer Spaltung unter den Islamisten führen. Immerhin haben sie Erdogan jahrzehntelang verherrlicht. Auch al-Quaradawi, der sich persönlich in einem Tweet über den Besuch Herzogs beschwert, vermeidet es, Erdogan namentlich zu nennen.

Top-Ideologe der Muslimbrüder: Yusuf al-QuaradawiAPA/AL-WATAN DOHA

Erdogan richtet nichtsdestotrotz seine Politik weiterhin neu aus. Am Mittwoch verurteilte die türkische Botschaft in Tel Aviv den jüngsten in einer Reihe von Terroranschlägen in Israel. Bei der Schießerei in Bnei Brak waren fünf Menschen getötet worden – der eXXpress berichtete –, darunter ein arabisch-israelischer Polizeibeamter und zwei ukrainische Staatsangehörige.

Die Hamas und die Türkei sprechen heute eine andere Sprache

Die Hamas, der palästinensische Zweig der Muslimbrüder, lobte die Terroristen als “heldenhaft”, während der palästinensische Islamische Dschihad sie als Teil des “Widerstands gegen die Besatzung” bezeichnete. Anders die Worte der Türkei: “Wir sind besorgt, dass diese Anschläge, die in den vergangenen Tagen zugenommen haben, die Region vor dem bevorstehenden Ramadan und dem Pessachfest erneut in einen Konflikt stürzen werden”, erklärte die türkische Botschaft. “Wir sprechen den Familien derjenigen, die in Bnei Brak ihr Leben verloren haben, sowie der Regierung und dem Volk Israels unser Beileid aus und wünschen den Verletzten eine rasche Genesung.”

Ankara im Jahr 2012: Top-Hamasführer Ismail Haniyya (l.) aus dem Gaza-Streifen trifft sich Erdogan.APA/AFP PHOTO/ADEM ALTAN

Jahrelang hatte sich die Türkei auf Kollisionskurs mit Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Israel und Saudi-Arabien  befunden, nun zwingen die diplomatische Isolation und die wirtschaftlichen Belastungen Erdogan zu einem Kurswechsel. Im vergangenen Jahr leitete er eine Annäherung an Ägypten ein. Noch im Jahr 2019 hatte er geschworen, sich niemals mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi zu versöhnen.

Muslimbrüder ausgewiesen

Seit Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten an der Macht ist, sind zahlreiche führende Muslimbrüder in die Türkei geflohen. Doch nun ändert sich ihre Situation im Land. Die Türkei hat kürzlich eine Reihe von Aktivisten der Muslimbruderschaft ausgewiesen, darunter Yasser al-Omda, der Anfang des Monats wegen Aufwiegelung gegen die ägyptische Regierung ausgewiesen wurde.

Ohne Erdogan direkt zu kritisieren, äußerte auch die Hamas ihre Enttäuschung über den Besuch und wiederholte “unsere Weigerung, mit der zionistischen Besatzungsmacht zu kommunizieren, und wir fordern mehr Unterstützung für unser Volk, um die Besatzung zu beenden und unsere nationalen Rechte wiederherzustellen.”

Islamisten in der Türkei beugen sich dem neuen Kurs

Noch im Jahr 2020 drohte Erdogan damit, die Beziehungen zu den Vereinigten Arabischen Emiraten auszusetzen, nachdem diese einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnet hatten. Im Februar besuchte er sie dann selbst und traf sich mit Kronprinz Bin Zayed.

In der Zwischenzeit haben einige in der Türkei lebende Islamisten beschlossen, sich Erdogans gewandelter Politik zu beugen, insbesondere diejenigen, die bei einer Rückkehr in ihre Heimatländer vor Gericht gestellt werden könnten.

Islamisten in der Türkei gefällt nicht, was sie sehen, aber zurzeit akzeptieren sie es.APA/AFP

Muslimbrüder bekämpfen ungebrochen Israel

So twitterte etwa der ägyptische Muslimbrüder-Führer Ahmed Abdel-Aziz, der in der Türkei lebt: “Mein persönlicher Standpunkt ist, dass jedes ‘muslimische’ Land, das Beziehungen zum zionistischen Gebilde unterhält, sich mit aller Kraft darum bemühen sollte, diese Beziehungen zu beenden und dieses Gebilde in die Reihe der Feinde zu stellen, nicht in die Reihe der Freunde oder Verbündeten, nicht einmal in die Liste der Neutralen… Die Türkei ist (bisher) ein ‘säkulares’ Land im Sinne der Verfassung.”

Dennoch halte er “das Beste” von Erdogan, “so wie ich das Beste von der Führung der Hamas halte, und ich sehe ihn in genau der gleichen Situation wie sie”.

Erdogan setzt seinen Kurs fort

Erdogan setzt seine feindselige Haltung gegenüber Israel und seine panislamistische Politik aus, ungeachtet der Meinungen der Islamisten, insbesondere derjenigen, die auf türkischem Boden Zuflucht gefunden haben, weil diese es sich nicht leisten können, sich seiner neuen Politik nicht anzupassen und die Konsequenzen zu tragen.