Aus Sicht der EU schränkt Polen seit Jahren die Grundrechte ein. Polen sieht das anders. Dort erklärte nun das polnische Verfassungsgericht wiederum Teile der EU-Verträge für verfassungswidrig. Der Streit mit Brüssel hat damit eine neue Eskalationsstufe erreicht. Warschau wehrt sich mit dem Urteil gegen den Grundsatz, wonach EU-Recht vor nationalem Recht steht.

EU kritisiert Disziplinarkammer am Obersten Gericht

Aufgrund der anhaltenden EU-Kritik ließ die Regierung von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki vom polnischen Verfassungsgericht prüfen, ob EU-Recht überhaupt Vorrang vor nationalem Recht hat. Das Verfassungsgericht folgte der Auffassung der Regierung und erklärte, Brüssel überschreite mit seinem Vorgehen gegen Warschau seine Kompetenzen.

Im Justizstreit droht Polen ein EU-Zwangsgeld von täglich mehreren Millionen Euro. Grund ist eine 2018 geschaffene Disziplinarkammer am Obersten Gericht, die Richter maßregeln und suspendieren kann. Die EU sieht darin ein Mittel zur unbotmäßigen Einflussnahme der polnischen Regierung auf die Justiz. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) rief Polen auf, die Kammer auf Eis zu legen, bisher aber ohne Folgen. Wie hoch das Zwangsgeld ausfällt, dürfte der EuGH in Kürze entscheiden.

Keine Corona-Hilfsgelder bisher

Darüber hinaus hält die EU-Kommission bisher die Freigabe von insgesamt 57 Milliarden Euro aus dem europäischen Corona-Hilfsfonds für Polen zurück – davon sind 23 Milliarden Euro direkte Zuschüsse, weitere 34 Milliarden zinsgünstige Kredite. Das ist bisher das massivste Druckmittel in den Händen der EU. Polens Justizminister Zbigniew Ziobro wirft Brüssel deshalb “Erpressung” vor.

Gegen Polen – wie auch gegen Ungarn – seit Jahren läuft ein Strafverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags. Dieses kann theoretisch bis zum Entzug von Stimmrechten führen. Das heißt, Polen könnte in wichtigen Fragen von EU-Entscheidungen ausgeschlossen werden. Die Mitgliedstaaten schrecken bisher aber vor diesem scharfen Schwert zurück, insbesondere auch, weil Ungarn sich schützend vor Polen stellt – und umgekehrt.

Streit um Migranten

Auch die polnische Flüchtlingspolitik stößt auf Kritik: Im September wurden vier tote Migranten im Grenzgebiet zu Belarus entdeckt. Polen wirft dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko vor, Geflüchtete zur Vergeltung für EU-Sanktionen gezielt an die Grenze zu schleusen. Hilfsorganisationen bemängeln, Warschau lasse die Menschen alleine. Bereits in der Flüchtlingskrise 2015 hatte sich Polen gegen die Aufnahme von Syrern gesperrt. (APA/Red)