„Europa auf der Intensivstation“ nannten Sie Ihr 2020 erschienenes Buch. Warum befindet sich Europa auf der Intensivstation? Hat sich seit Erscheinen des Buchs etwas geändert?

Seit Erscheinen des Buchs ist noch deutlicher geworden, dass sich eine Kluft öffnet zwischen dem Selbstverständnis der meisten Westeuropäer, über die weltbesten Institutionen zu verfügen, und der Realität. Die Anamnese des geeinten Kontinents zeigt Spaltung, multiples Institutionenversagen, wachsende Zukunftssorge und Sklerose.

Sind das europaspezifische Probleme?

Im Vergleich zu weiten Teilen der Welt verfügen europäische Länder über relativ hohes kulturelles und wirtschaftliches Kapital. Daher wirkt jede Kritik wie Jammern auf hohem Niveau. Doch wenn Wohlstand und Stolz in immer größerem Maße auf Kapitalkonsum beruhen, ist kritisches Innehalten wichtig. Dass Europa trotz seiner vermeintlichen Spitzenposition in Wissenschaft, Gesundheit und staatlicher Kapazität zu einem Kerngebiet des Pandemiegeschehens wurde, bot eine solche Gelegenheit zur Selbstkritik.

Die komplexe Seuchendynamik ist noch immer nicht gänzlich verstanden, doch zeigte sich, dass EU-Staaten im internationalen Vergleich an Voraussicht, Institutionenkompetenz, Informationstechnologie, kritischem Diskurs und gesellschaftlicher Selbstorganisation nicht an der Spitze stehen, sondern eher im Mittelfeld. Das spezifische Problem ist also ein relatives: eben eine wachsende Kluft zwischen Selbstverständnis und Position, die sich auch in der wachsenden Spaltung europäischer Gesellschaften zeigt.

"Die Pandemie legitimierte Heilserwartungen in politische Interventionen"

Welche Länder standen aus Ihrer Sicht bei Institutionenkompetenz und gesellschaftlicher Selbstorganisation an der Spitze?

Bei Institutionenkompetenz Singapur, bei gesellschaftlicher Selbstorganisation Taiwan.

Sie warnen mit Blick auf Europa vor allem vor Stagnation, denn diese sei „nicht gemächliches Dahinleben auf hohem Niveau, sondern steigende Volatilität: Immer neue Schocks, an denen das Schlimmste stets die Reaktionen sind, die sich zu einer Spirale der Selbstbeschäftigung und Selbstbeschädigung hochschaukeln.“ Sehen Sie Anzeichen dafür?

Die Interventionsspirale dreht sich immer schneller. Leider legitimierte die Pandemie trotz massiven Staatsversagens die Heilserwartung an politische Interventionen, obwohl diese stets verspätet und weitgehend im Blindflug erfolgen. Wirklich dramatisch wird es erst, wenn der ausbleibende Erfolg der gesteigerten Planwirtschaft auf Kreditbasis immer neue Pläne notwendig zu machen scheint. Dann könnten wir selbstbeschleunigten Kapitalkonsum und damit ein Wirtschaftswunder im Rückwärtsgang erleben.

"Die potenzielle Wirkung positiver Vorbilder war noch nie so groß"

Wie könnte sich Europa von solchen staatlichen Interventionsspiralen befreien?

Nur noch durch die Kraft positiver Vorbilder, sobald der Leidensdruck größer wird. Eine Reform von innen ist auszuschließen, da die Probleme systemisch sind und nur die Symptome verspätet erkannt werden.

Gibt es Anzeichen, dass das gelingen könnte?

Es gibt in dieser Welt viel Grund für Optimismus. Die Dynamik der Entwicklung war gerade in den letzten Jahrzehnten historisch einmalig in der Hebung der Lebensverhältnisse großer Menschenzahlen, sie ist in Europa nur weitgehend unbeachtet und unverstanden geblieben. Dank Verbindung der Menschheit durch Kommunikationstechnologie und Mobilität war die potenzielle Wirkung positiver Vorbilder noch nie so groß.

Im Falle der USA konstatieren Sie mehr negative, aber auch mehr positive Dynamik als in Europa. Könnten Sie das kurz erklären?

Mehr Innovationskraft bei noch weiter fortgeschrittener geldpolitischer Verzerrung der Wirtschaftsstruktur, größere Breite des Diskurses bei noch weiter fortgeschrittener Spaltung der Gesellschaft.

"Die wertvollsten Ideen sind stets Wagnisse gegen den Zeitgeist"

Innovationen erweisen sich als nützlich für die Menschen und sind – wie Sie schreiben – „Grundlage von neuer Wertschöpfung“. Nun weisen Sie auf ein interessantes Problem hin: Wir rühmen nur die Innovationen der Vergangenheit, kennen aber noch nicht jene von morgen. Ist mehr Freiheit für Bürger ein besserer Rahmen für neue Innovationen, als staatliche Planung?

Wenn man unter Innovation nur die schnelle Durchdringung mit Großtechnologie meint, dann kann hierbei staatliche Rahmenplanung überlegen sein. Die Voraussetzungen für den Weg der asiatischen „Tigerstaaten“ sind in Europa aber nicht gegeben: extreme Kompetenzauslese in der Verwaltung und Leistungswille und -kraft von Menschen, die von Wohlstand und Technologie noch nicht genug bekommen können. Die asiatische Planung wird zudem falsch verstanden. Sie war dort erfolgreich, wo sie subsidiär und ergebnisoffen war, sich an der Marktdisziplin anhand des Exportabsatzes ausrichtete und Sonderwirtschaftszonen als Experimentierfeld nutzte.

Doch Innovation ist nur dann nachhaltig, wenn sie die Anpassung der Produktionsstruktur durch neue Ideen an die künftigen Präferenzen der Menschen bedeutet. Der Mangel an Freiheit lässt sich in China noch als Preis des Wachstums rationalisieren, und viele Europäer scheinen insgeheim diesem Vorbild zu folgen. Doch nur am Anfang der Wirtschaftsentwicklung sind die freien Präferenzen der Menschen so ähnlich, planbar und absehbar: mehr! In China sehen wir schon dieselben Folgen wie einst im europäischen Wirtschaftswunder des 19. Jahrhunderts, als militärische Nachfrage, staatliche Industriespionage und enge Verflechtung von Schwerindustrie, Banken und Staat Wachstum schufen, das über die Präferenzen der Menschen hinausging: immer aggressiverer Chauvinismus bei schizophrenem Anlegerverhalten zwischen FOMO (Angst, etwas zu verpassen) und Panik.

Bei den finanziellen Verzerrungen sind wir leider nicht so weit hinter China, doch da wir immer mehr Akademiker und immer weniger Ingenieure haben, nähren die Blasen mehr kreativen Unsinn als Infrastruktur. Nun 800 Milliarden Euro nachzupumpen, erlaubt weiteres Zubetonieren der Landschaft, aber eben keine neuen Ideen – denn die wertvollsten Ideen sind stets Wagnisse gegen den Zeitgeist, der durch neue Mittel und Pläne noch dominanter und wirkmächtiger wird.

"Europas größter Vorzug: Fehler einzelner Staatsmänner nicht auf den gesamten Kontinent auszudehnen."

Sie schreiben: „Verbesserungen folgen aus Entdeckungen, nicht aus Verordnungen.“ Greift das nicht zu kurz? Staatliche Verordnungen wie die Schaffung eines Währungssystems unter Karl dem Großen, eines Schulsystems oder staatliche Institutionen, die mehr Rechtssicherheit schaffen und z.B. politische Partizipation ermöglichen, erwiesen sich doch zuweilen als eminent wichtig?

Es ist nicht auszuschließen, dass es seltene Staatsmänner und -frauen gibt, die zur richtigen Zeit den richtigen Fokus legen – weil sie weiter blicken als die meisten ihrer Zeitgenossen. Das ist aber wenig wahrscheinlich und allenfalls in ferner Zukunft historisch bewertbar. Der größte Vorzug Europas war stets ein in dieser Hinsicht negativer: die Fehler einzelner Staatsmänner möglichst nicht auf den gesamten Kontinent auszudehnen.

Dass der heutige kurzfristige Fokus der Politik Weitblick selektieren sollte, ist so unwahrscheinlich, wie es schwierig ist, historische Entwicklungen auf Einzelentscheidungen zurückzuführen. Für die relativ hohe Alphabetisierung, Rechtssicherheit, Partizipation in Europa waren lange Kulturentwicklungen viel relevanter als einzelne Fürstenakte. In allen drei beispielhaft herausgegriffenen Bereichen stand die Grundtendenz der Dynamik sogar im glatten Widerspruch zu top-down-Entscheidungen – genährt mehr durch Widerspruchsgeist und die Möglichkeiten dazu als durch die zentralisierte Kompetenz und den Weitblick absolutistisch-merkantilistischer Planer.

"Wir benötigen dringend Institutionenwettbewerb. Ich setze am meisten Hoffnung in neue Stadtgründungen"

„Heilung oder wirtschaftlicher Niedergang“ lautet der Untertitel ihres Buches. Wovon wird es abhängen, welchen der beiden Wege Europa geht?

Einen Mangel an Besserwissern mit großen Vorschlägen hat Europa gewiss nicht. Am wahrscheinlichsten ist es, dass Europa beide Wege parallel geht. Weite Teile Europas haben ihren historischen Höhepunkt an relativem Wohlstand wohl überschritten. Am wichtigsten ist es, zu einem realistischeren Selbstverständnis zu gelangen. Das bedeutet, nicht mehr die Welt zu belehren, sondern wieder das Lernen zu lernen. Wir benötigen dringend Institutionenwettbewerb.

Ich setze – in alter europäischer Tradition – am meisten Hoffnung in neue Stadtgründungen, nicht als geplante Betonwüsten, sondern autonome Oasen der Innovation. Daher leite ich die Free Private Cities Foundation (freeprivatecities.com). Gegenthese und Gegentrend – eben Niedergang – wäre es, jenen, die niemals Konsequenzen für ihre Entscheidungen tragen, noch mehr Planungskompetenz und Mittel zu übertragen. Es ist eines der untrüglichen Zeichen des Niedergangs, vom Sofa aus die Verbesserung der Welt zu fordern, ohne sich selbst verbessern zu wollen.