Selbst wenn der Westen die Ukraine aufgibt, ein Kampfschauplatz dürfte das Land bleiben. Mit diesen Worten lässt Karin Kneissl in ihrem jüngsten Podcast-Interview aufhorchen. Ob der Westen die Ukraine wie eine heiße Kartoffel fallen lassen könnte, wird sie zunächst gefragt. „Es wäre nicht das erste Mal in der jüngeren Geschichte“, meint Österreichs Ex-Außenministerin. Sie verweist auf den Südvietnam und auf Ägyptens Ex-Präsidenten Husni Mubarak. In der Politik solle man besser von „Allianzen“ sprechen, als von „Freundschaften“.

Im Zuge des Arabischen Frühlings rückte der damalige US-Präsident Barack Obama vom ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak ab.APA/dpa/Wolfgang Kumm

„Dass die westliche Unterstützung ein Ende finden könnte, liegt auf der Hand“

Es könnte durchaus sein, dass die Ukraine in nicht mehr allzu ferner Zukunft nicht mehr jene Priorität für den Westen und vor allem die USA hat, „die sie in der medialen Wahrnehmung, im Handelskrieg und in der militärischen Unterstützung durch die NATO zurzeit hat.“ Kneissl habe immer den Eindruck gehabt, „dass China die absolute Priorität der USA ist und nicht unbedingt Russland“.

Erst kürzlich hat Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei einem Kiew-Besuch angeführt, welche enormen Kosten für die westlichen Steuerzahler aufgrund des NATO-Engagements in der Ukraine entstanden sind.

NATO-General Stoltenberg erwähnte bei seinem Kiew-Besuch die enormen Kosten des Krieges für die westlichen Steuerzahler.

„Dass das ein Ende finden könnte, liegt auf der Hand“, sagt Kneissl. „Aber damit ist ja nicht gesagt, dass Europa den Kampfschauplatz Ukraine los wäre. Im Gegenteil. Das Land ist mit Waffen vollgespickt. Der Staat ist mittendrin in einer Zerfallserscheinung.“

Kneissl sieht die Ukraine von verschiedener Seite in Bedrängnis

Von verschiedener Seite befände sich die Ukraine hier in Bedrängnis. „Einerseits durch die Annexion des Donbass von russischer Seite her, aber auch durch verschiedenste andere Bewegungen.“ Kneissl erwähnt Polen und Ungarn, ohne ins Detail zu gehen. „Sehr, sehr vieles ist im Fluss.“

Polen und Ungarn haben beide historisch begründete Interessen am Land. Geschätzte 150.000 Ungarn leben in der Ukraine, primär im äußersten Westen, der Karpatenukraine. Kiews Gesetzgebung über den Vorrang der ukrainischen Sprache kommen in Budapest nicht gut an, und ebenso die Einberufung von Angehörigen der ungarischen Minderheit in den Krieg.

Ein wichtiges Anliegen für Ungarn ist die ungarische Minderheiten in der Ukraine. Im Bild: Ungarns Premierminister Viktor Orban.APA/AFP/Attila KISBENEDEK

Warschau wiederum wirft ein Auge auf Galizien, das sich von Südpolen bis in die Westukraine erstreckt.

Polen unterstützt die Ukraine, hat aber auch ein historisches Interesse an Galizien. Im Bild: Polens Präsident Andrzej Duda (l.) begrüßt den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.APA/AFP/Wojtek Radwanski

Mit Österreich ist die Region aus historischen Gründen freilich ebenfalls eng verbunden. 1772 gelangten Teile Galiziens im Rahmen der ersten Teilung Polens an das österreichische Haus Habsburg. Die Stadt Lemberg war vor dem Ersten Weltkrieg eine der größten Garnisonen der k.u.k. Armee im Osten der Doppelmonarchie. Der Standort wurde zum Eckpfeiler, um die Grenze Österreich-Ungarns gegen das Russische Kaiserreich zu schützen. Der Österreich-Bezug prägt die Stadt bis heute. Prominente polnische wie österreichische Wissenschaftler wurden in Lemberg geboren.

Baerbock sprach kürzlich nicht mehr von einem Sieg über Russland

Ein Artikel im deutschsprachigen Online-Magazin Telepolis sah kürzlich Anzeichen dafür, dass der Westen Kiew fallen lässt. Der Grund: Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach beim G7-Treffen in Tokio nicht mehr von einem Sieg über Russland, wie bisher. Sie unterstrich nur: „Wir als G7 tun alles dafür, dass die Ukraine dann so stark da steht, dass sie frei über ihre Zukunft entscheiden kann.“ Ziel sei ein dauerhafter und gerechter Friede, keine Friedhofsruhe.

Gegenoffensive: Neue Waffen werden wohl getestet werden – Drohnen und Künstlicher Intelligenz

Angesprochen auf die ukrainische Gegenoffensive, die laut jüngsten Medienberichten am 30. April beginnen könnte, verwies Kneissl auf eine technologische Wende, die zurzeit in der Kriegsführung stattfinde. „Schießbefehle werden gegenwärtig durch Algorithmen zusammengestellt. Es gibt nicht mehr die Kommandanten oder Operationsraum, sondern durch Künstliche Intelligenz betriebene Drohnenverbände.“ Die Entwicklung habe in den vergangenen 15 Jahren begonnen, etwa in Afghanistan. „Mittlerweile sind einige Drohnen nicht größer als ein Streichholz um bestimmte Menschen durch Gesichtserkennung zu ermorden. Auch beim Frontverlauf an der Ostukraine wurden Soldaten bis in die Schutzräume hinein gejagt.“

Kneissl pflegt bis heute freundschaftliche Beziehungen in Moskau

Man werde sehen, „ob es wirklich um die Leopard-Panzer geht oder um das Experimentieren mit neuesten Drohnen, wer auch immer sie entwickelt hat, ob Türkei, Iran oder USA.“

Es finde eine Zäsur statt ähnlich wie im Ersten Weltkrieg: „Man ritt in Ersten Weltkrieg hoch zu Ross mit Kavallerien und ging heraus mit Panzern und Kampfflugzeugen. Diesmal werden wir vielleicht mit Künstlicher Intelligenz und neuen Waffengattungen herausgehen.“