Corona-Populismus: Wie man den Hass auf die Ungeimpften gezüchtet hat

Ein vom Papst erleuchteter Klagenfurter Rektor, ein Sport-Reporter in kriegerischer Angriffspose und ein spaltender „Spiegel“-Kolumnist. Sie sind Beispiele für das Ende der offenen Gesellschaft.

Am Anfang eine gute Nachricht: Wenn man heutzutage die Höhen postmodernen Unsinns erklimmen will, muss man sich gar nicht mehr durch irgendwelche schwer lesbaren Klassiker wie zum Beispiel die „Grammatologie“ des französischen Salonphilosophen Jacques Derrida oder durch die recht willkürlich argumentierenden Schriften einer Judith Butler quälen. Es ist inzwischen deutlich billiger zu haben. Als Ausdruck des an allen Ecken und Enden unserer Gesellschaft stattfindenden geistigen Zerfalls konnte man sich kürzlich stattdessen ebenso das recht kindlich und einfach geschriebene Rundmail des Rektors der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Oliver Vitouch, vom 6. November zu Gemüte führen, in dem er ungeimpften Studierenden erklärte, dass sie an höheren Bildungseinrichtungen nichts mehr zu suchen hätten. Schwindlig konnte einem dabei allerdings trotzdem werden, denn ein kohärenter Gedankengang war darin weitgehend zu vermissen.

Beispiel eins: Oha, der Papst!

Stattdessen war die weltanschauliche Darlegung, zu der der geistig wendige Hochschulleiter ausholte, im wahrsten Sinne des Wortes divers. Schaffte der gute Mann es doch tatsächlich, sich im entscheidenden Absatz der Mitteilung an die ihm anvertrauten Zöglinge sowohl auf die Wissenschaft als auch auf den Papst und, damit die Wirrnis komplett ist, dann doch wiederum auf die Aufklärung zu berufen. Den weiten Horizont, auf dem sein Geist ruht, stellte er endgültig schlagend dadurch unter Beweis, dass er am Schluss seines Rundmails sogar den Wikipedia-Artikel zum Begriff der „Aufklärung“ verlinkte.

Das ist eine Leistung, deren Dimension man erst nach und nach erfassen kann. Nicht nur, dass diese bunten Verweise ein derartig ungeordnetes weltanschauliches Durcheinander ergeben, dass es damit andernorts nicht einmal für einen schlechten Schüleraufsatz gereicht hätte. Man möge es doch auch bitte nicht außer Acht lassen, dass Vitouch es tatsächlich zustande brachte, sich auf eine Äußerung des Papstes zu berufen, in der dieser von „Nächstenliebe“ gesprochen hatte, um im Namen dieser Äußerung Leuten zu erklären, dass er sie von seiner Universität ausschließt. Anscheinend sah der Klagenfurter Rektor also im Ausschluss von Personen aus dem Zugang zum Hochschulwesen einen Akt der Nächstenliebe. So etwas muss ihm in der Tat einmal einer nachmachen können. Vielleicht hätte aber auch einer der Studenten ein christliches Erbarmen mit ihm haben und ihm daraufhin als Antwort einen Wikipedia-Artikel zu dem Begriff „Nächstenliebe“ retour schicken sollen.

Dass eine derartig dilettantische Aussendung überhaupt möglich war und allgemein ernst genommen wurde, anstatt dass man in schallendes Gelächter darüber ausbrach, zeugt nicht nur vom geistigen Niveau, auf dem die Corona-Populisten sich mittlerweile tummeln, sondern auch davon, wie weit die Stimmungsmache gegen Ungeimpfte insgesamt inzwischen vorangeschritten ist. Und in einem “Standard”-Interview legte der selbstbewusste Rektor noch einmal nach und zog dort sogar einen längst verstorbenen satirischen Schriftsteller in die Diskussion hinein, der sich leider nicht mehr dagegen wehren konnte, dass eine seiner vielen bissigen Bemerkungen von einem Kärntner Bildungsfunktionär ihrer hintergründigen Ironie entkleidet und instrumentalisiert wurde. „Oder wie Karl Kraus sagte: In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige“, erklärte der Universitätsleiter bierernst, ohne sich mit der schillernden Doppeldeutigkeit des Satzes aufzuhalten.

Karl Kraus — die Aufklärung — und der Papst! Wer hätte da Vitouch widersprechen können, wenn er doch solche Mächte hinter sich hatte bei seinem Drang, seinen Anordnungen nicht gefügige Personen aus der Universität zu entfernen. Kraus würde sich zwar wahrscheinlich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass der Corona-Populismus es inzwischen schafft, sich nicht nur auf den Papst und auf die gesamte Aufklärung, sondern dann sogar auch noch auf ihn zu berufen, aber das muss ja Vitouch keine schlaflosen Nächte bereiten. Die sollten eher wir haben und uns fragen, was in der heutigen Welt los ist, dass so jemand den Posten eines Universitätsrektors innehat.

Ein falscher Begriff von Aufklärung

Ein Einschub muss hier noch sein, bevor wir zum nächsten Beispiel weiterschreiten. Denn wenn ein österreichischer Hochschulleiter schon offen legt, auf welchem Niveau er zu diskutieren wünscht, indem er auf einen Wikipedia-Artikel wie auf eine höhere Autorität verweist, dann wäre es doch nicht schlecht, wenn er wenigstens diesen selbst ordentlich gelesen und verstanden hätte. Das ist bei Vitouch möglicherweise nicht der Fall. Denn dann hätte er ja sehen müssen, dass es „die“ Aufklärung nicht gibt, sondern sie eine weit komplexere Bewegung war, als gemeinhin angenommen wird, dass zu ihr auch durchaus immer wieder ein ambivalentes Verhältnis zur Wissenschaft und Wissenschaftskritik gehört haben und dass eine solche sogar oft an den Universitäten großes Thema war und dort gelehrt wurde. Dass dieser Umstand im Zuge der Corona-Krise von Politikern und Medienleuten sowie diversen Agitatoren fast beständig übergangen wird, mag noch verzeihlich sein, denn denen geht es nun einmal bloß um Meinungsmache. Aber wenn ein Universitätsrektor so tut, als wüsste er nichts davon, dann ist das traurig.

Zweitens ist es darum natürlich ebenso falsch, dass Vitouch in seiner Aussendung Aufklärung auf (Natur-)Wissenschaft reduziert. Zur Aufklärung gehört nicht weniger vieles andere. Beispielsweise etwa die Ideen der Freiheit, der Würde und der Autonomie des Subjekts sowie grundlegender Persönlichkeitsrechte. „Gesellschaftspolitisch zielte die Aufklärung auf mehr persönliche Handlungsfreiheit (Emanzipation), Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und das Gemeinwohl als Staatspflicht.“ Auch das kann man im vom Klagenfurter Rektor verlinkten Wikipedia-Artikel nachlesen. Das übergeht er allerdings, weil er mit Beziehung auf diesen Aspekt der Aufklärung nicht so einfach autoritär Leute aus dem Universitätsleben ausschließen beziehungsweise ihnen eine Impfung vorschreiben könnte. Schwerlich wird er jedoch irgendwo einen Beleg dafür finden, dass eine solche rabiate Vorgangsweise den grundlegenden Ideen der Aufklärung entsprechen würde.

Und drittens wird seit längerer Zeit im öffentlichen Diskurs überdies durch Corona-Populisten — und nun eben auch von Vitouch — eine Auffassung von Wissenschaft verbreitet, die irreführend ist. Denn genauso wie es nicht „die“ Aufklärung gibt, wie einen monolithischen Block, so gibt es auch nicht „die“ Wissenschaft. Wissenschaft wird hier ideologisiert und „als Herrschaftsmittel missbraucht“, wie der Blogger Jan David Zimmermann richtig erkennt. Wissenschaft ist ein komplexes, breit gefächertes sowie kontroversiell organisiertes Diskursfeld und bietet keine absolute Wahrheit, sondern immer nur vorläufige Erkenntnisse. Gerade im Zuge der Corona-Pandemie wurde dies ganz besonders problematisch und deutlich sichtbar.

Zimmermann: “Wenn jedoch vieles nur vorläufig gilt und morgen wieder ganz anders sein kann, ist es umso absurder, dass man mit einem Brustton der Überzeugung eine Eindeutigkeit der ‚Faktenlage‘ suggeriert, die eben nicht vorliegt.“ Der Blogger spricht in diesem Zusammenhang von der falschen „Gewissheit, mit der uns politisch-medial (aber leider auch wissenschaftlich) unumstößliche ‚Fakten‘ geliefert werden, die zu drakonischen Maßnahmen führen, die wir unbedingt einhalten müssen, nur um sich dann wenige Wochen bis Monate später der neu justierten Gewissheit stellen zu müssen, dass diese Maßnahmen und Ansichten mitunter unhaltbar, unwirksam, fehler-bis lückenhaft waren oder revidiert werden müssen […]“

Beispiel zwei: Der Fall Kimmich

Schauen wir nach Deutschland, wo nicht weniger seltsame Dinge vorsichgehen. Stellt sich doch dort ein einfacher Sportreporter wie ein Höchstrichter vor einem ohnehin nur mehr eingeschüchtert Antwort gebenden Fußballer auf, um ihn zur Rede zu stellen, weil er — nein, kein Verbrechen begangen hat, sondern ungeimpft ist.

Man sehe sich das Video vom 23. Oktober an, in dem Joshua Kimmich von SkySport interviewt wird: Man traut seinen Augen kaum, was man da sieht. Was sagt mehr über unsere aus den Fugen geratene Zeit als diese fünf Minuten? Ein Sportjournalist interviewt einen Fußballer, der eine persönliche Entscheidung getroffen hat, die im Grunde nur ihn angeht, wie Armin Wolf hierzulande einen korrupten Politiker. Zwischendurch wagt sich Kimmich mit dünner Stimme hervor und möchte die öffentliche Geißelung kurz unterbrechen, indem er fragt: „Haben Sie auch noch mal ein paar sportliche Fragen?“ Ein gerechtfertigter Hinweis darauf, dass es über die ganze Länge des Interviews seltsamerweise gar nie um das Fußballspielen geht.

Indes hat der Reporter, Patrick Wasserziehr, an dieser Stelle keine Schwierigkeiten, ein windiges Ausweichmanöver zu vollziehen: „Ich möchte durch die Fragen versuchen zu verstehen, auch im Sinne unserer Zuschauer, warum Sie so handeln! Darum geht es! Es geht nicht darum jemanden anzuklagen!“ versichert er. Eine kaum glaubhafte Antwort, denn genau das ist es, was Wasserziehr die ganze Länge des Interviews über tut: Kimmich anklagen, ihm Vorwürfe machen, ihn angreifen. Das ist das Einzige, worum es geht, über fünf Minuten lang, von Anfang bis Ende des Gesprächs.

Und man hat den Eindruck, er hört den gar nicht so schlechten Gegenargumenten des Fußballers noch nicht einmal zu. Konterkariert wird die besänftigende Behauptung des Sportjournalisten, er wolle ja nur verstehen, außerdem durch seine aggressive Körpersprache. In breiter Alphamännchen-Pose hat sich der großgewachsene Mann vor Kimmich hingestellt, steht da wie ein Baum und holt weit mit den Armen wie mit Ästen gegen ihn aus, oder wie ein Staatsanwalt gegen einen Delinquenten beim Kreuzverhör. Desgleichen ist die Stimmlage laut, kläffend und aggressiv. Systematisch treibt er Kimmich in die Enge, dem man Respekt zollen muss, dass er angesichts Wasserziehrs Benehmen so sehr die Ruhe behält.

Vermutlich fühlt sich aber auch Wasserziehr, wie Vitouch, als Speerspitze der Aufklärung. Was fehlt, ist freilich der Verweis auf den Papst, aber schließlich ist Wasserziehr ja nur Sportjournalist und kein Universitätsrektor. Da geht es auch ohne die höchste heilige Instanz.

Beispiel drei: „Wir“ sind „die Geiseln der Ungeimpften“

Eines klassischen Prinzips nicht nur des Corona-Populismus, sondern von Populismus überhaupt, bediente sich der „Spiegel“-Kolumnist Nikolaus Blome mit seinem am 8. November erschienenen Kommentar, der eine Überschrift trägt, die man nur mit dem Prädikat „reißerisch“ versehen kann: „Wir Geiseln der Ungeimpften”.

Es ist das Prinzip der Polarisierung schlechthin und lautet: „Wir“ gegen „die Anderen“. Allein schon der Titel der Kolumne drückt diesen Grundsatz klar und deutlich aus: Die Ungeimpften werden anscheinend gar nicht mal mehr als Leser des Textes in Erwägung gezogen, an sie ist er nicht einmal mehr gerichtet, so sehr werden sie schon als die „Anderen“, als die aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen betrachtet. Sie kommen nur als die „Geiselnehmer“ des kollektiven „Wir“ vor. Dass sie selbst auch zu unserem „Wir“ dazugehören, das ist hier schon durch die Formulierung nicht mehr denkbar. Konsequent ist daher auch der folgende Satz des Textes, der die Spaltung in zwei „Wir“ vornimmt: „Die Minderheit der freiwillig Ungeimpften nimmt die Mehrheit der Geimpften in Haftung, ja, als Geisel.“

Nun bin ich selbst ein Geimpfter, aber ich wehre mich dagegen, mich unter eine solche populistische Lesart stellen zu lassen, die meine ungeimpften Freunde und mich auseinanderdividiert und mir einreden will, ich wäre von ihnen als Geisel genommen. Tatsächlich erkenne ich hier vielmehr das Bemühen des Autors, mich als Geimpften mit seiner verführerischen „Wir-Rhetorik“ in Geiselhaft zu nehmen und für seine Freund-Feindbild-Agitation zu vereinnahmen.

Ortwin Rosner, 1967, hat Germanistik und Philosophie in Wien studiert. Diplomarbeit 2003 bei Wolfgang Müller-Funk mit dem Titel “Körper und Diskurs. Zur Thematisierung des Unbewussten in der Literatur anhand von E. T. A. Hoffmanns ‘Der Sandmann'”, erschienen 2006 im Peter-Lang-Verlag. Er lebt mittlerweile als Schriftsteller in Wien.

Der Autor Ortwin Rosner