Man kann es kaum glauben: In Kürze soll es tatsächlich so weit sein und die Regierung wird die kalte Progression abschaffen. Seit Jahren ist das ein politisches Dauerthema. Bei der Nationalratwahl 2019 wurde die Beseitigung der kalten Progression sogar von allen politischen Parteien befürwortet. Im Endeffekt hat sich dennoch keine Regierung zu diesem Schritt durchringen können – bisher. Auf die sprudelnden Steuereinnahmen wollte kein Finanzminister verzichten. Angesichts der anhaltenden Rekordinflation soll sich das nun aber ändern. Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) will damit ernst machen.

Eine verdeckte Steuererhöhung, vom Bürger unbemerkt

So konkret die Auswirkungen der kalten Progression für die Bürger sind, so schwer ist es, sie in wenigen Worten zu erklären. Im Grund geht es um eine versteckte Steuererhöhung Jahr für Jahr, die dadurch entsteht, dass die progressiven Steuertarife nicht an die Inflation angepasst werden.

Die kalte Progression entsteht, weil zwar die (Nominal)-Einkommen wachsen und an die Inflation angepasst werden, nicht aber die festgelegten Grenzen, ab denen die jeweiligen Steuersätze greifen. Ein Beispiel: Wenn einem Österreicher, der im Jahr 2021 rund 2500 Euro brutto verdient hat, in den fünf Jahren zuvor nur die Inflation ausgeglichen wurde, ist seine Kaufkraft in den vergangenen fünf Jahren unverändert gleich geblieben. Nominal (ohne Berücksichtigung der Inflation) verdient er aber acht Prozent mehr als 2016. Gleichzeitig zahlt dieselbe Person um elf Prozent mehr Lohnsteuer. Er muss mehr Steuern bei stagnierender Kaufkraft zahlen. Dieses Phänomen nennt man “kalte Progression”.

Der Staat war bisher der große Profiteur

Um diese geheime Besteuerung abzuschaffen, müsste man die Tarifstufen anpassen. Der Eingangssteuersatz liegt zum Beispiel wie 2016 noch immer bei 11.000 Euro. Wäre er an die Inflation angepasst worden, begänne die Steuerpflicht heuer erst bei rund 12.200 Euro, alles darunter wäre steuerfrei. Dasselbe gilt für die höheren Tarifstufen, die der Staat aber nicht anhebt.

So schmerzlich das für den Steuerzahler ist, so erfreulich ist es für den Staat, wie die Denkfabrik Agenda Austria schon mehrmals vorgerechnet hat. Jährlich fließen deshalb zusätzliche Milliarden Euro in die Staatskassa. “Dieses Geld gehört aber nicht dem Staat, sondern den Steuerzahlern”, sagt Franz Schellhorn, der Direktor der Agenda Austria.

Brunner: "Jetzt ist der richtige Zeitpunkt"

Nun lässt Finanzminister Brunner aufhorchen. Er würde die kalte Progression gerne bereits 2023 abschaffen. Durch die hohe Preissteigerung sei die Situation nun anders als noch vor einigen Monaten: “Jetzt ist der richtige Zeitpunkt und ich glaube auch, dass es mehrheitsfähig wäre”, sagte Brunner bei einer Diskussionsrunde zur Teuerung am Dienstag. Er plant, noch vor dem Sommer ein Konzept für die Abschaffung vorzulegen, das dann im Parlament diskutiert wird.

Vor einigen Monaten sei man im Finanzministerium und auch in Expertenkreisen noch davon ausgegangen, dass die Inflation nur kurzfristig hoch sein werde. Langfristig, so dachte man, würden sich wieder stabilere Preise einstellen. Heute sei die Situation eine andere. Deshalb werde derzeit nicht nur überlegt, die kalte Progression abzuschaffen, sondern “mein Wunsch wäre, dass das Inkrafttreten 2023 passieren kann”, erklärt der Finanzminister.

Schweden und die Schweiz haben gezeigt, wie es geht

Bei der Abschaffung der kalten Progression könne sich Österreich an Schweden oder Schweiz orientieren, meint Franz Schellhorn. In der Schweiz würden die meisten Tarife und Steuerabzüge jedes Jahr automatisch an die Inflation angepasst.

Würde man in Österreich die Tarifstufen und alle Absetz- und Freibeträge an die Inflation anpassen, wäre die kalte Progression gänzlich ausgemerzt. Schweden geht noch einen Schritt weiter: Dort ändere sich das Steuersystem nicht nur gemäß der Inflation, auch die Reallohnentwicklung werde berücksichtigt. So werde nicht nur die kalte Progression eliminiert, sondern auch die Steuerbelastung gemessen am Einkommen konstant gehalten, sagt Schellhorn.