Die türkische Lira erleidet schon seit längerem eine starke Inflation. Doch seit einem Monat befindet sie sich im freien Fall. Sie hat seit Anfang November rund ein Viertel ihres Wertes verloren. Schuld daran ist vor allem eine Person: Präsident Recep Tayyip Erdogan. Das Bemerkenswerte: Anders als in den vergangenen Jahren will er diesmal von seinem unheilvollen Kurs nicht abweichen, sondern ihn unbeirrt fortsetzen – im Widerspruch zur ökonomischen Lehre und trotz des enormen Unheils, in das er damit seine Landsleute stürzt.

Senkung des Leitzins läutete Kurssturz ein

Kurz vor dem jüngsten Kurssturz der Lira senkte die türkische Notenbank den Leitzins von 18 auf 16 Prozent. Dabei betrug die Inflationsrate bereits knapp 20 Prozent. Angestoßen wurde die Zinssenkung von Erdogan, dessen Geldpolitik sich auf Kriegsfuß befindet mit allen Wirtschaftstheorien. Erdogan zufolge wird Inflation durch niedrigere Zinsen bekämpft. Die ökonomische Lehre sagt das Gegenteil: Zur Begrenzung der Inflation braucht es eine Verknappung der Geldmenge und höhere Zinsen. Recep Erdogans historisch einzigartiges Experiment hat bereits zwei türkische Zentralbanker in die Verzweiflung getrieben. Was Erdogan aber nicht davon abhält seinen Kurs fortzusetzen, trotz der steigenden Verzweiflung seiner Bürger und der wachsenden Proteste.

Diesmal will Erdogan die zu niedrigen Zinsen beibehalten

Analysten rechnen bei einer Fortsetzung dieses nun beschrittenen Weges mit einer Inflationsrate von künftig 30 Prozent. Sollte Erdogan – beziehungsweise die türkische Zentralbank – dann noch immer nicht einlenken, wäre irgendwann Hyperinflation die Folge, also ein Preisanstieg von mehr als 50 Prozent im Monat.

Im März hat Erdogan den Chef der Notenbank zum mittlerweile dritten Mal innerhalb von weniger als zwei Jahren ausgetauscht. Im Oktober feuerte er der restliche Personal in der Notenbankführung, das seinem Kurs nicht folgen wollte. Zwei weitere Male hat die türkische Zentralbank seither den Leitzins gesenkt. In den Jahren 2018 und 2020 schwenkte die Notenbank aber ein: Nachdem sie zuerst, wie vom Präsidenten gewünscht, die Zinsen senkte und jedes Mal ein massiver Währungsabsturz folgte, erhöhte sie ab einem gewissen Punkt die Zinsen wieder deutlich. So konnte sie die Lira stabilisieren.

Manche Beobachter meinen, diesmal werde das auch so kommen. Erdogan steht mittlerweile unter Druck. Nun hat er seinen Finanzminister ausgetauscht. Lütfi Elvan verlässt das Amt nach nur etwas mehr als zwölf Monaten und wird durch Nureddin Nebati ersetzt. Doch Erdogans Rhetorik verheißt diesmal keine Kurskorrektur. Im Gegenteil.

Die Kampfrhetorik wirkt bei manchen Anhängern noch

In einem Interview beim Staatssender TRT hat Erdogan bis zu den für 2023 geplanten Wahlen niedrigere Zinsen versprochen. Die Türkei sei “an einem Punkt, an dem es darum geht den Teufelskreis zu durchbrechen.” Die hohen Zinsen zerstörten die heimische Produktion und erzeugten eine strukturell hohe Inflation. “Wir beenden diese Spirale.” Der türkische Präsident lässt sich weder von Argumenten, noch Fakten, noch dem ungeheuren Leiden seiner Landsleute umstimmen. Dafür warnt er vor ausländischen “Geldbaronen”, aus deren Händen er das Land befreien wolle.

Noch schart Erdogan mit solchen Worten seine Anhänger hinter sich. Erdogans Fans himmeln ihren Präsidenten mit fast religiöser Inbrunst an. Sie tragen seine Politik mit, freilich nicht ohne Frustration. Auch sie können nicht länger ignorieren, dass selbst ein Kaffee zu teuer wird. Auch ansonsten häufen sich im Land Bilder einer um sich greifenden Rezession.

Beim Fleischer kaufen die Menschen Knochen statt Fleisch

Kostete eine Lira vor vier Wochen noch neun Cent, sind es jetzt nur noch 6,5 Cent. Auf Sicht von fünf Jahren hat die Währung sogar fast 80 Prozent ihres Wertes verloren. Die Preise für Lebensmittel, Wohnraum und vieles mehr steigen unterdessen stark an. Ein Fleischer auf einem Istanbuler Markt sagte dem Sender Arti TV, Menschen kauften nun vermehrt Knochen, weil Fleisch zu teuer sei. Daraus wird etwa Knochensuppe zubereitet. Ein anderer Verkäufer sagte, Menschen fragten neuerdings, ob sie auch nur ein Viertel Karfiol kaufen könnten.

Andererseits wollen die Menschen ihr Geld möglichst schnell loswerden. Vor den Geschäften bilden sich lange Schlangen. Man kauft, man man noch bekommen kann. Kürzlich begannen die Türken ihre Ersparnisse in iPhones anzulegen, um sie vor dem Wertverfall zu bewahren. Daraufhin musste Apple seine Online-Verkäufe in der Türkei einstellen – der eXXpress berichtete. Der eigenen Währung vertrauen die Türken schon länger nicht mehr. Bitcoin wurde im März dieses Jahres schließlich verboten.

Vorgezogene Wahlen als Kalkül?

Man fragt sich, wie lange das noch gutgehen kann und worauf Erdogan eigentlich hofft. “Die politische Führung glaubt mit einer Abwertung der türkischen Lira international wettbewerbsfähiger zu werden und das Bruttoinlandsprodukt zu steigern”, sagt Ceyhun Elgin, Ökonom an der Istanbuler Bogazici-Universität. “Das ist eine sehr riskante Politik, die es so meines Wissens nach noch nicht gegeben hat.” Das politische Kalkül dahinter könnten vorgezogene Wahlen im kommenden Jahr statt 2023 sein. Die Regierung wolle kurzfristig Wirtschaftswachstum bewirken, um damit die Wähler wieder auf ihre Seite zu ziehen. “Und das verkaufen sie als einen ökonomischen Unabhängigkeitskrieg gegen alle Imperialisten dieser Welt”.

Basak Taraktas, Professorin an der Bogazici-Universität, forscht zu sozialen Bewegungen. Sie glaubt nicht an eine große Rebellion. Erdogans Gegner seien nämlich stark gespalten. Daran konnte auch die Lira-Krise bisher nichts ändern. Das spiegelt sich auch in Umfragen wider. Laut dem Institut Metropoll glauben mehr als 64 Prozent, dass die aktuelle Regierung die wirtschaftlichen Probleme nicht lösen kann – 55 Prozent sind aber der Meinung, auch die Opposition vermöge das nicht.

Der Ausgang ist ungewiss

Das könne sich immer noch ändern, sagt Taraktas, etwa wenn die Lira weiter massiv an Wert verliere. “Das wäre eine Situation, die auch die Regierung nicht mehr rechtfertigen könnte”. Erdogan hat für Dezember bereits weitere Zinssenkungen angekündigt.

Die Frustration steigt. Menschen gehen mittlerweile auf die Straße. Spontan bilden sich Proteste gegen eine Geldpolitik, die alle Ersparnisse dahin schmelzen lässt und immer mehr Bürger in die Armut stürzt – der eXXpress berichtete. Der türkische Präsident lässt die Demonstranten – wie immer – festnehmen.

Erdogan kann die protestierenden Menschen auf der Straße wegsperren, doch die Unzufriedenheit im Land und die überall spürbaren Folgen einer sich stetig verschlimmernden Inflation kann er nicht einfach wegsperren. Vor allem aber: Wie er den Krieg gegen den Finanzmarkt gewinnen will, weiß keiner. Nur der Verlierer steht fest: Die leidgeprüften türkischen Bürger.