Einen schweren Vorwurf erhebt der Energie-Experte und Bestseller-Autor Michael Shellenberger („Apokalypse – niemals! Warum uns der Klima-Alarmismus krank macht“): US-Präsident Joe Biden und der kanadische Premierminister Justin Trudeau retten lieber das Klima als Europa. Die Schuld sieht er beim Klima-Alarmismus samt den anhaltenden Protesten in den vergangenen Jahren. Man könnte auch sagen: Europa bekommt nun die Folgen der Klimapolitik am eigenen Leib zu spüren.

Michael Shellenberger ist Klima-Aktivist der ersten Stunden, kritisiert aber den apokalyptischen Klima-Aktivismus von heute scharf.Oscar Gonzalez/NurPhoto via Getty Images

Biden und Trudeau haben ihr Versprechen nicht gehalten

In den ersten Wochen nach Einmarsch Russlands in der Ukraine zeigten sich Biden und Trudeau noch entschlossen, die Öl- und Gasproduktion im eigenen Land auszuweiten, um ihre Verbündeten im Ausland zu unterstützen. Biden kündigte an, die LNG-Menge zu erhöhen, um die Importe aus Russland zu ersetzen. Trudeau wollte prüfen, „wie wir mehr Öl und Gas nach Europa liefern können“.

Beide haben ihre Versprechen nicht eingelöst. „Die Hinterzimmergespräche sind gescheitert, und die europäischen Staats- und Regierungschefs appellieren zunehmend öffentlich an die USA und Kanada, mehr Öl und Gas für den Export zu produzieren“, sagt Shellenberger.

US-Präsident Joe Biden (r.) bei einem Treffen mit dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau (l.)APA/AFP/Jim WATSON

Scholz holt sich in Kanada kalte Füße

Vergangene Woche flog der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz nach Kanada, um Trudeau um mehr Erdgas-Exporte nach Europa zu bitten. Trudeau wies das zurück und sagte, es habe nie einen überzeugenden wirtschaftlichen Grund dafür gegeben, kanadisches LNG nach Europa zu liefern. Es gebe aber gute wirtschaftliche Argumente für die Produktion und den Export von Wasserstoffgas nach Deutschland.

Scholz stieß bei Trudeau auf Granit: kein LNG aus Kanada .APA/AFP/Cole Burston

„Trudeaus Behauptungen waren lächerlich“, kritisiert Shellenberger. „Wasserstoff macht weniger als 2 % des europäischen Energieverbrauchs aus, und 96 % davon werden aus Erdgas (CH4) hergestellt. Im Gegensatz dazu ist Europa mit Energie-, Strom- und Düngemittelknappheit konfrontiert, die auf die Knappheit und den hohen Preis von Erdgas zurückzuführen ist, das 24 % des EU-Energiemixes ausmacht und für die europäische Industrie unerlässlich ist.“

Keine neuen Pipelines, keine Gasförderung, keine LNG-Terminals

Zwar fördern die USA und Kanada mehr Erdgas als je zuvor, räumt Shellenberger gegenüber den Verteidigern der amerikanischen Politik ein. Die USA sind auch mittlerweile der größte LNG-Exporteur der Welt. Allerdings wurden diese Steigerungen schon vor Bidens Amtsantritt eingeleitet. Und: „Sie machen nur einen winzigen Bruchteil dessen aus, was beide Länder produzieren könnten. Der größte US-Erdgasproduzent EQT hat errechnet, dass die USA leicht viermal mehr LNG produzieren könnten“.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärte Biden bereits: Er kann sich nicht auf zusätzlich Öl-Lieferungen aus Saudi-Arabien verlassen.APA/AFP/POOL/Ludovic MARIN

Nordamerika hat auf 1000 Jahre genügend Erdgasreserven für sich und für Europa. Beide Regierungen machen sich das nicht zunutze: „Sowohl die Biden- als auch die Trudeau-Regierung weigern sich, die für den Bau der Pipelines, die Gasförderung und den Bau der LNG-Terminals erforderlichen Genehmigungen zu erteilen.“ Michael Shellenberger ist Amerikaner und schlicht fassungslos: „Warum sagen Biden und Trudeau Europa praktisch, es solle tot umfallen?“

Bei Trudea überwiegt die Sorge um den Klimawandel

Der Wirtschaftskolumnisten Tristan Hopper von der kanadischen National Post führt Trudeaus Widerstand gegen Erdgas einzig auf dessen Sorge um den Klimawandel zurück. „Eine 10-Milliarden-Dollar-LNG-Exportanlage, die in Quebec geplant war, wurde von der Regierung Quebecs und der Bundesregierung vor allem mit der Begründung abgelehnt, dass sie die Treibhausgasemissionen erhöhen würde”. Infolgedessen gibt es in Kanada keine LNG-Exportterminals.

Klimaaktivistin wie Greta Thunberg haben andere Prioritäten: kein Gas, kein Öl, dafür mehr alternative Energien. Das ist ihre Forderung.APA/dpa/Kay Nietfeld

Die Regierung Biden wiederum verlangt von den Ölgesellschaften, weniger zu exportieren. „Ich fordere Sie erneut auf, sich in nächster Zeit auf den Aufbau von Lagerbeständen in den Vereinigten Staaten zu konzentrieren, anstatt die vorhandenen Bestände abzubauen und die Exporte weiter zu steigern“, schrieb US-Energieministerin Jennifer Granholm in einem Brief an die Ölraffinerien.

„Die neue Umweltreligion untergräbt die westliche Zivilisation“

Shellenberger fordert ein Umdenken: „All dies geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem die europäischen Energiepreise so hoch geworden sind, dass sie entweder zu einer Inflation in energieintensiven Industrien oder zu deren völliger Zerstörung führen.“ Aber: „Den Klimaaktivisten ist das egal. Oder besser gesagt, die Deindustrialisierung ist ein Merkmal und kein Fehler ihrer Strategie. Überall in der westlichen Welt protestieren sie gegen die Ausweitung der Erdgasexporte nach Europa“. In Kanada verursachten Blockaden der Klima-Aktivisten vor Autobahnen und Eisenbahnstrecken einen wirtschaftlichen Schaden in Höhe von Hunderten von Millionen Dollar für die kanadische Wirtschaft. Auch Arbeitslager für Gaspipelines wurden von ihnen gewaltsam angegriffen.

Bisher konnte niemand Trudeau (l.) und Biden umstimmen.APA/AFP/GABRIEL BOUYS

„Die apokalyptische Umweltbewegung ist eine Religion“, konstatiert der Star-Autor. „Das Problem mit der neuen Umweltreligion ist, dass sie die westliche Zivilisation untergräbt. Energiefeindliche Politiker und Aktivisten behaupten, wir müssten den Energieverbrauch einschränken, um die Zivilisation vor dem Klimawandel zu retten. Doch damit setzen sie die Zivilisation zunehmend aufs Spiel.“