Er war einer der größten Reformer des letzten Jahrhunderts, der den Kalten Krieg beendete, Millionen Menschen die Freiheit schenkte und ohne den es den Fall der Berliner Mauer nicht gegeben hätte: Michael Gorbatschow, 91, der letzte Präsident der Sowjetunion, starb am Dienstag Abend kurz vor 22 Uhr im Central Clinical Hospital (CCH) in Moskau.

Aus Angst vor Corona zweieinhalb Jahre in der Klinik

Gorbatschows letzte Jahre waren – vor allem durch Corona – von Einsamkeit geprägt. Seit Beginn der Pandemie vor zweieinhalb Jahren lebte er völlig abgeschirmt von der Öffentlichkeit in einem separaten Block des CCH. Eine Vorsichtsmaßnahme, denn durch seinen schlechten Allgemeinzustand – er litt seit langem an Diabetes – und sein Alter war die Sorge groß, dass er eine Coronainfektion wohl nicht überleben würde.

In der Klinik wohnte und arbeitete er, rund um die Uhr bewacht von zumindest drei Sicherheitsleuten, ehemaligen KGB-Agenten. Sein Apartment wirkt nicht wie ein Krankenzimmer: Schwere dunkelbraune Holztüren, freundliche hellgelbe Wände, an der Wand ein Flatscreen-TV, Kommoden mit Bildern seiner Tochter Irina Virganskaya (65) und von seinen beiden Enkelinnen sowie Urenkeln.

Der Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow posiert während der bilateralen Gespräche am 20. November 1990 in Paris.

Auch im hohen Alter las Gorbatschow viel, ließ sich Zeitungen und Magazine bringen und ging meist spät schlafen. Er klagte aber schon längere Zeit über Appetitlosigkeit und verlor über 30 Kilo Gewicht. Doch bis zum Schluss war er geistig voll da, verfolgte die Ereignisse in der Ukraine – und schwieg.

Gorbatschow bekam offiziell nur 2 Euro Pension

Früher war der letzte Präsident der Sowjetunion bis zu 200 Tage im Jahr auf Reisen. Doch seit ihm seine Gesundheit immer mehr zu schaffen machte, musste er dies zur Gänze einstellen. Die meisten Büros seiner Gorbatschow-Stiftung am Leningradsky Prospekt, die früher auf mehreren Etagen zahlreiche Mitarbeiter und sein monumentales Archiv beherbergten, sind längst vermietet. Mit seinen Vortragsreisen und zahlreichen Buchveröffentlichungen finanzierte Gorbatschow seine Stiftung – und sein Leben. Denn vom russischen Staat bekam er ursprünglich nur umgerechnet 2 (!) Euro Pension pro Monat, weil aus unerfindlichen Gründen seine Pensionsansprüche nicht an die Inflation angepasst, also nicht indexiert wurden. Ob für diesen „Fehler“ sein großer Gegenspieler Boris Jelzin verantwortlich war, wollte er nicht sagen.

Mit den Mitarbeitern seiner Stiftung kommunizierte Gorbatschow während der gesamten Pandemie nur mittels Videokonferenzen und Telefon, selbst seine einst engsten Vertrauten durften ihn nicht mehr besuchen. Täglich fuhr ein Bote der Stiftung zu Gorbatschow, gab Unterlagen und Dokumente für ihn ab und nahm andere von ihm wieder mit. Nur seine Tochter Irina Virganskaya, die Vizepräsidentin der Gorbatschow Stiftung, kam immer wieder in die Klinik, manchmal auch mit ihren beiden Töchtern.

Die meisten Russen sehen in Gorbatschow den Totengräber der Sowjetunion.

Vor der Pandemie lebte er in einer schmucklosen Datscha

Die Zeit vor der Pandemie lebte Gorbatschow in seiner zweistöckigen Datscha in Kolchuga bei Moskau, die ihm lebenslang vom russischen Staat zur Verfügung gestellt wurde, mit persönlichem Fahrer, Köchin und seinen Leibwächtern. Ein schmuckloses Haus, das sehr an den sowjetischen Baustil der 1960er-Jahre erinnert, nur ein großer Balkon lässt es freundlicher erscheinen. 

Soweit es seine Gesundheit zuließ, machte Gorbatschow am liebsten ausgedehnte Spaziergänge. Als er mit seiner 1999 an Krebs verstorbenen Frau Raisa noch in Stawropol lebte, gingen sie oft kilometerlang spazieren. Auch mit Ende 80 zog sich Gorbi seine Mütze tief ins Gesicht, die sein rotes Feuermal auf der Stirn verdeckte, eine Sonnenbrille auf, und marschierte durch die Straßen. Nur selten wurde er so auch erkannt. Während er weltweit als Held der Freiheit und des Friedens gefeiert wurde, machten ihn die meisten Russen für den Untergang der Sowjetunion als Großmacht verantwortlich.

Der Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow posiert während der bilateralen Gespräche am 20. November 1990 in Paris.

Er vertraute deutschen Ärzten am meisten

Wenn es um seine Gesundheit ging, vertraute Gorbatschow deutschen Ärzten mehr als russischen. Alle seine großen Operationen ließ er in München machen, 2006 an der inneren Halsschlagader in der Universitätsklinik Großhadern, 2011 an der Wirbelsäule in der Schön Klinik. Er erholte sich dann meist in seiner Villa in Rottach-Egern am Tegernsee, wo er immer wieder längere Zeit lebte. In Bayern fühlte sich Gorbatschow sehr wohl. 

Das Haus mit 570 Quadratmetern Wohnfläche und einem Nebengebäude bot Gorbatschow den Lebensstil, den er so in Moskau nicht hatte. Seit 2015 war er immer seltener dort, seine Tochter nutzte das Hubertus-Schlössl noch hin und wieder, dann versuchte man es um sieben Millionen Euro zu verkaufen, nahm es schließlich wieder vom Markt, bis sich 2019 ein Käufer – zu einem geringeren Preis – fand.

Der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, wendet sich am 12. Jänner 1990 während seines dreitägigen Besuchs in der Sowjetrepublik Litauen in Siauliai an die Anwohner.

Mit dem Verkauf des Hauses fehlte Gorbatschow auch sein deutsches Rückzugsgebiet. Seine Tochter Irina, die viele Jahre in Berlin-Schulzendorf lebte, soll Deutschland ebenfalls verlassen haben, aber mittlerweile wieder in Berlin leben. Gorbatschow zog zur Gänze in seine Datscha, eine herrschaftliche Moskauer Wohnung, die ihm damals auch noch gehörte, verkaufte er.

Nun ist Gorbatschow mit 91 Jahren gestorben. Ein Mann, der die Welt veränderte wie kaum ein zweiter, hat diese für immer verlassen. Sein Vermächtnis bleibt – und ist in Zeit wie diesen wichtiger denn je.