Einzelne westliche Staaten leisten besonders viel Ukraine-Hilfe, andere sind zurückhaltend. Von wem profitiert Kiew am meisten?

Besonders opferbereit sind die Nachbarstaaten der Ukraine, etwa Polen und die baltischen Staaten. Polen hat auch mit Abstand am meisten Flüchtlinge aufgenommen. Das ist sehr verdienstvoll, nur entscheidend für die Ukraine ist die Unterstützung aus den USA und aus Großbritannien.

„Mache mir große Sorgen um die Entwicklung in der Ukraine“

Die USA haben sich in der Ukraine wesentlich stärker als die europäischen Länder engagiert. Sie haben mehr finanzielle Hilfe und Waffenhilfe geleistet. Großbritannien, das militärisch und ökonomisch etwa gleich stark ist wie Frankreich, hat wesentlich mehr Ausbildungshilfe als die Franzosen geleistet. Bisher sind es nicht in erster Linie die EU-Staaten, die die Ukraine unterstützen, sondern die angelsächsischen Länder. Dabei halte ich die Zurückhaltung von EU-Europa für sehr verständlich.

Präsident Wolodymyr Selenskyj (r.) mit dem britischen Ex-Premier Boris Johnson

Weshalb?

Ich mache mir große Sorgen um die Entwicklung in der Ukraine und halte gar nichts davon, wenn Politiker, wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagen, die Ukraine muss siegen. Ich halte einen ukrainischen Sieg für eine Illusion. Sollten die ukrainischen Truppen nicht nur Donezk, sondern auch die Krim zurückerobern, würde ich damit rechnen, dass Putin zu Nuklearwaffen greift. Dann besteht die Gefahr einer Eskalation hin zum Atomkrieg. Das wäre eine Katastrophe, für Europa, auch für Putin, vermutlich aber für die ganze Welt. Diese Situation kann man sich nicht wünschen. Deshalb halte ich das Ausmaß der westlichen Unterstützung für die Ukraine für illusionsgetrieben.

„Putin will vermutlich die vier annektierten Gebiete unter seine Kontrolle bringen“

Sie wünschen keinen Sieg der Ukraine?

Es wäre wünschenswert, wenn Putin nicht siegt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die annektierten Gebiete ohne nukleare Eskalation von der Ukraine zurückerobert werden können. Das Günstigste wäre wohl, dass es irgendwann zu einem Waffenstillstand kommt, bei dem Teile dieser Provinzen de facto bei der Ukraine bleiben. Die Aufteilung zwischen Russland und der Ukraine könnte den gegenwärtigen Stellungen am Boden ähneln. Was Putin aber auf jeden Fall behalten will, das sind die Krim, sowie die Volksrepubliken Lugansk und Donezk, die er schon im Jänner hatte, und eine Landbrücke zur Krim. Das ist, denke ich, das absolute Minimum. Wahrscheinlich ist, dass Putin die vier annektierten Gebiete zur Gänze unter seine Kontrolle bringen will, und ich sehe nicht, wie der Westen das ohne das Risiko eines nuklearen Einsatzes verhindern kann.

„Russlands Niederlage würde Taiwan nicht sicherer machen“

Öfters hört man: Eine Niederlage Putins sei notwendig, um China von einem Krieg gegen Taiwan abzuschrecken.

Wenn Russland in diesem Krieg so schlecht abschneidet, dass man das in Peking als russische Niederlage interpretiert, glaube ich nicht, dass das zur Sicherheit Taiwans beiträgt. Chinas Sicht auf Russland ist immer weniger von Bewunderung geprägt und scheint mir zunehmend in Verachtung überzugehen. Warum? Vor 45 Jahren hatte die Sowjetunion eine viermal größere Wirtschaftsmacht als China. Übertragen auf die Größe des heutigen Russlands – demographisch macht Russland ungefähr die halbe Sowjet-Union aus – wäre das Verhältnis immer noch 2:1. Heute ist aber das Verhältnis 10:1 zugunsten Chinas.

Eine Niederlage Putins wird Chinas Präsident Xi Jinping nicht von einem Angriff auf Taiwan abhalten, sagt Prof. Erich Weede.APA/AFP/Sputnik/Alexei Druzhinin

Wenn sich Russland also eine blutige Nase in der Ukraine holt, woran ich nicht glaube, warum sollte das dann Taiwan sicherer machen? Zumindest in der Wirtschaft haben die Chinesen gelernt: Die Russen bringen nichts zustande, aber wir vollbringen Wunder. Warum sollen sie nicht glauben, auch militärisch Wunder zu vollbringen, an denen die Russen scheitern? Den Effekt auf China können wir vergessen. Die Chinesen trauen sich Dinge zu, die sie den Russen nicht zutrauen, denn dass sie dazu in der Lage sind, hat die Wirtschaft gezeigt.

„Putin wird keine weiteren Staaten angreifen, wenn Europa das Notwendige macht“

Und der Effekt auf Russland? Manche meinen, nur eine Niederlage in der Ukraine hält Putin von weiteren Kriegen in Europa ab.

Nehmen wir an, Putin erreicht seine Ziele und es kommt zu einem einigermaßen stabilen Waffenstillstand, in dem Russland die neu dazu gewonnenen Gebiete behält. Dann weiß Putin gleichzeitig, dass sich seine Armee gegen die zahlenmäßig deutlich schwächere ukrainische Armee nicht sehr gut geschlagen hat. Darüber hinaus war die ukrainische Kampfmoral weit besser als jene seiner Truppen und ebenso die Ausbildung. Er weiß, dass er Charkiw nicht einnehmen konnte. Warum sollte sich Putin nun zutrauen, das Baltikum zu erobern?

Das wird er nicht tun, wenn Europa das Notwendige macht. Egal wie dieser Krieg ausgeht: Nun sind die baltischen Länder und Polen in der NATO und in der EU. Nun müssen wir die Ostgrenze von NATO und EU absichern. Das wird teuer. Wenn wir dort ähnlich viele gut ausrüstete Truppen stationieren wie früher mitten in Deutschland am Eisernen Vorhang, warum sollte ein Putin, der Charkiw nicht einnehmen konnte, dann noch glauben, er könnte Warschau, Riga, Vilnius und Tallinn einnehmen. Ich glaube nicht, dass Putin an solchen Illusionen leidet.

Prof. Dr. phil. Erich Weede (80) ist emeritierter Professor der Soziologie der Universität Bonn und forscht vor allem zu Wirtschaftswachstum, Einkommensverteilung, Kriegsursachen und Kriegsverhütung.

„Ob Putin auf unglückliche Gedanken kommt, hängt nicht vom Ausgang des Krieges ab“

Mit wie viel Eroberungen wird Putin denn zufrieden sein?

Wenn er Teile der Süd- und Ostukraine bekommt, dann kann er froh sein, dass er aus diesem unglücklichen Krieg wieder herauskommt. Ich habe nicht die Befürchtung, dass Putin aus einem Sieg in der Ukraine schließt: Das war der erste Schritt, dann kommt das Baltikum. Das könnte nur passieren, wenn der Westen auf die Stationierung von massiven Truppeneinheiten im Baltikum verzichtet. Eine erweiterte nukleare Abschreckung erfordert Bodentruppen von Atommächten. Daher müssen das in nennenswertem Ausmaß amerikanische Truppen sein. Wenn der Westen nicht bereit ist, das Baltikum zu verteidigen, dann ist nicht auszuschließen, dass Putin auf unglückliche Gedanken kommt. Aber das hat relativ wenig mit dem Ausgang des Ukraine-Krieges zu tun. Das hängt von unserer Rüstungsbereitschaft ab.

Prof. Dr. phil. Erich Weede (80) ist emeritierter Professor der Soziologie der Universität Bonn. Er studierte Psychologie an der Universität Hamburg und absolvierte ein Zweitstudium der Soziologie und der Politikwissenschaft an den Universitäten Bochum, Mannheim und Northwestern (Illinois, USA). 1970 Promotion und 1975 Lehrbefugnis in Politischer Wissenschaft an der Universität Mannheim – beides Untersuchungen im Bereich der (quantitativen) Kriegsursachenforschung. 1978 bis 1997 Professor für Soziologie an der Universität Köln, danach bis 2004 ordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Bonn.