Es wäre eine ziemliche Blamage für die Strafverfolger: Seit 15 Monaten sitzt der Ex-Wirecard-Vorstand Markus Braun in einer neun Quadratmeter großen Gefängniszelle, doch eine Anklage lässt auf sich warten. Ein möglicher Grund: Die Staatsanwaltschaft hat sich in etwas verrannt. Neue Indizien ergeben nämlich ein gänzlich anderes Bild. Demnach war Braun nicht der Haupttäter, wie vermutet, sondern vielmehr das Opfer seines nach Russland abgetauchten Vorstandskollegen Jan Marsalek. Die Ermittler halten freilich weiterhin am einzigen Kronzeugen fest, doch der hat sich schon längst in Widersprüche verwickelt – was nun ihn selbst verdächtig macht.

Gut möglich also, dass die wahren Täter noch frei herumlaufen, während für Markus Braun der Schaden bereits enorm ist: Sein Vermögen wurde gepfändet und seine Ehefrau mit dem gemeinsamen dreijährigen Kind darf er nur alle vier Wochen sehen – hinter einer Plexiglasscheibe.

Markus Braun war an Schattenstrukturen nie beteiligt

Von den neuen Indizien und dem gänzlichen anderen Bild, das sie ergeben, berichtet der deutsche Publizist Gabor Steingart in seinem “Morning Briefing”. Er beruft sich dabei auf Recherchen von ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker, der neue Erkenntnisse unter anderem nach Durchsicht von bisher unveröffentlichten E-Mails und Kontoauszügen gewinnen konnte.

Fahndungsbilder von Jan Marsalek

Was etwa auffällig ist: Markus Braun war an den Schattenstrukturen bei Wirecard überhaupt nicht beteiligt und hat auch an den Veruntreuungen nie partizipiert. Vielmehr bestand sein Vermögen überwiegend aus Wirecard-Aktien, die er zum Teil auf Kredit gekauft hat – und zwar bis zum Mai 2020. Bis zur Wirecard-Pleite hat er auch keine einzige davon verkauft. Vielmehr hat er noch zwei Monate vor seiner Verhaftung seine Privatimmobilien, in denen seine Familie lebte, verpfändet. Fazit: Mit dem Zusammenbruch von Wirecard wurden alle seine Vermögenswerte vernichtet.

Dennoch will die Staatsanwaltschaft in Braun den eigentlichen “Banden-Chef” erblicken, der dann aber reichlich ungeschickt, um nicht zu sagen naiv agiert haben müsste.

Braun kannte Marsaleks Doppelleben vermutlich nicht

Wahrscheinlicher ist, dass Markus Braun von den Schattenstrukturen tatsächlich nichts gewusst hat. Gemäß ThePioneer-Recherchen wusste er auch nichts von den Planungen für eine “Wirecard 2.0” und der zentralen Rolle Jan Marsaleks dabei als “senior decision maker”. Marsalek ist höchstwahrscheinlich die zentrale Figur. Von 2015 bis 2018 soll er rund 60-mal mit dem Privatjet nach Russland geflogen sein – ohne das Wissen von Braun, wie dieser beteuert. Er hatte das Doppelleben Marsaleks demnach nicht bemerkt.

In der Zwischenzeit hat sich der Kronzeuge B. “in massive Widersprüche und Unwahrheiten verstrickt”, wie Steingart berichtet. Womit der Verdacht aufkommt, dieser könnte selbst Mittäter sein, und wolle auf diesem Weg seine Beteiligung verschleiern.

Bis jetzt fehlt auf jeden Fall von Jan Marsalek jede Spur, die betrogenen Anleger warten noch immer auf Aufklärung und Markus Braun sitzt weiterhin im Gefängnis.