Deutschlands prominentester Ökonom Hans-Werner Sinn (73) übt im Interview mit dem bayerischen Münchner Merkur scharfe Kritik an der Corona-Politik der EU und an der deutschen Kanzlerin Angela Merkel: Dass Europa beim Impfen gegenüber den USA, Großbritannien und anderen nun um Monate zurückfällt, sei deren Schuld. Dieses Scheitern werde nicht nur teuer werden, sondern auch Menschenleben kosten. Die derzeitige Impfstoffknappheit in Europa vergleicht er mit der sowjetischen Mangelwirtschaft. Hans-Werner Sinn ist aber über das Versagen der EU nicht überrascht: „Sie steht für zentralplanerische Lösungen.“

„Die Briten triumphieren geradezu“

„Deutschland hat aktuell eine Impfquote erreicht, die der englischen vor zwei Monaten entspricht“, unterstreicht Sinn. „Viel zu viele Menschen sind in dieser Zeit gestorben.“ Für den Ökonomen ist eindeutig: „Die Länder, die selbstständig bestellt haben, sind früher an den Impfstoff gekommen. Die Briten triumphieren geradezu, sie können nicht nur viele Todesfälle vermeiden, sie werden auch einen sehr viel früheren wirtschaftlichen Aufschwung bekommen.“

Es war „ein politischer Fehler der Kanzlerin“, dass sie „die Impfstoffbeschaffung wegen der deutschen Ratspräsidentschaft der EU überlassen hat, ungeachtet des Umstandes, dass die Gesundheitspolitik nach den europäischen Verträgen gar nicht Aufgabe der EU ist.“

„Sind im Bereich sozialistischer Mangelverwaltung“

Sozialistische Ideen hörten sich immer gut an, doch sie scheitern bei der Durchführung. So war es auch bei der EU: „Solidarität und günstigere Preise zu erzielen waren scheinbar überzeugende Argumente. Tatsächlich musste aber der kleinste gemeinsame Nenner bei sehr unterschiedlichen Länderpräferenzen gefunden werden, und die Verhandlungen über Preise und Haftungsübernahme erwiesen sich als zeitraubend und kontraproduktiv. Am Ende wurde viel zu spät bestellt. Die Hersteller bauten ihre Kapazitäten entsprechend später aus, und dann lieferten sie bevorzugt an Länder, die mehr zu zahlen bereit waren.“

Die EU hat demnach die Lektion aus der Wirtschaftsgeschichte nicht gelernt: „Die zentrale Beschaffung einer knappen Ware funktioniert in der Praxis nie. Das haben 50 Jahre Kommunismus gezeigt. Trotzdem versucht man es immer wieder, und jedes Mal holt man sich aufs Neue eine blutige Nase.“ So mündete das Vorgehen der EU in der jetzigen Impfstoffknappheit. Die Konsequenz: Der Impfstoff wird nicht für alle freigegeben, sondern streng nach Impfgruppen priorisiert: „Jetzt sind wir im Bereich der sozialistischen Mangelverwaltung, und da bedarf es solcher Regeln. Die Milch im kommunistischen Polen musste man ähnlich verwalten wie heute den Impfstoff in Deutschland.“

„Staaten hätten von Marktmechanismus profitiert“

EU-Kommissionspräsidenten Ursula van der Leyen hatte das Vorgehen der EU-Kommission unter anderem mit der Gefahr verteidigt, dass einzelne EU-Länder den Impfstoff dann vor den anderen erhalten hätten. Dies „wäre an die Grundfesten Europas gegangen“. Hans-Werner Sinn sieht das offensichtlich völlig anders. Ihm zufolge war es klar Sache der Einzelstaaten, sich die Impfstoffe zu kaufen, und das nicht nur wegen der EU-Verträge, sondern auch wegen der Gesetze des Marktes, von denen die Einzelstaaten profitiert hätten, falls jeder für sich die Impfstoffe gekauft hätte:

„Das hätte die Preise hochgetrieben und so die Impfstoffproduktion forciert, weil die Anbieter früher und mehr in den Aufbau von Produktionskapazitäten investiert hätten. Das ist der Marktmechanismus, der besser als jeder andere in der Lage ist, Knappheiten zu überwinden. Man hätte es sogar privaten Impfstellen wie Ärzten, Apotheken und Krankenhäusern erlauben können, sich weitere Impfstoffe auf dem Weltmarkt zu besorgen. Die Kosten für die Impfstoffe wären auf diese Weise zwar höher gewesen, doch wären sie immer noch ein Klacks im Vergleich zu den wirtschaftlichen Vorteilen eines früheren Ausstiegs aus dem Lock-down gewesen, und tausende von Todesfällen hätten vermieden werden können.“

Gemäß der Rechnung von Sinn hätte es die EU knapp 30 Milliarden Euro gekostet, wenn sie im Sommer von allen sechs Impfstoffkandidaten genügen gekauft hätte, um die gesamte EU-Bevölkerung zu impfen. „Das ist vergleichsweise wenig, wenn man bedenkt, dass die Pandemie in der EU alle sieben bis zehn Tage 30 Milliarden Euro an Sozialprodukt kostet.“

Hans-Werner Sinn (73) ist Deutschlands bekanntester Ökonom. Er leitete von 1999 bis 2016 das renommierte ifo Institut für Wirtschaftsforschung in München. Er lehrte darüber hinaus Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er verfasste zahlreiche Bücher, unter anderem über den Euro, den Klimawandel und die Corona-Krise.