Seit beinahe zwei Jahren gibt es nur noch ein Thema: Corona. Die globale Pandemie hat uns immer noch fest im Griff, und das, obwohl Covid “längst nur noch eine Krankheit von vielen” sei, meint Prof. Dr. med. Martin Scherer (49). Scherer ist der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) und fordert in einem aktuellen Interview eine, so wie er es sieht, längst überfällige Wende in der Coronapolitik. Der “einseitige Fokus”, den die Politik auf Corona hat, habe gravierende Auswirkungen auf die ärztliche Versorgung, so der Familienärztechef.

Das müsse nun endlich aufhören, fordert er: “Wir müssen viel beraten. Die Menschen haben Angst. Sogar wenn sie geimpft und aufgefrischt sind und keine Vorerkrankungen haben, also das Virus oft wie einen normalen Atemwegsinfekt erleben”, erläutert Scherer gegenüber der deutschen “Bild”-Zeitung.

Scherer: "Dürfen Corona nicht mehr so groß machen"

Der deutsche Mediziner ist davon überzeugt, dass die Politik ihre Prioritäten überdenken und dementsprechend andere Maßnahmen setzen sollte. Corona dürfe nicht mehr behandelt werden, als würde das Virus alle anderen Krankheiten ausblenden, so Scherer: “Wenn ich Corona weiterhin an die oberste Stelle setze, hat das Folgen für die Menschen. Wie sollen sie verstehen, dass sie (geimpft und aufgefrischt) vor der Infektion keine Angst haben müssen, wenn das Thema weiter so groß gemacht wird? Das hat gefährliche Folgen, denn das geht zulasten der Versorgung bei anderen Krankheiten, die nicht minder gefährlich sind.”

Bis zuletzt sträubten sich sowohl in Deutschland als auch in Österreich Politiker gegen weitere Lockerungsmaßnahmen, wie sie in den vergangenen Tagen und Wochen immer mehr europäische Länder vornehmen. Der deutsche Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (58, SPD) warnte erst vergangene Woche davor, zu “voreilig” von den installierten Coronamaßnahmen abzulassen. Die tat Lauterbach mit der Begründung, dass 100 bis 150 Corona-Tote am Tag in Deutschland “immer noch zu viel” seien. Dieser Aussage steht Scherer kritisch gegenüber: “Wir müssen konsequent und verständlich bleiben im Umgang mit der Pandemie”, mahnt der Allgemeinmediziner.

"Corona ist nur noch eine Krankheit - behandeln wir sie auch so"

Es sei für viele nachvollziehbar gewesen, auf die Überlastung der Intensivstationen zu achten. Oder auf den Schutz der kritischen Infrastruktur. “Denn es ging darum, die gesellschaftliche Dimension von Corona zu bewältigen. Wer jetzt auf die Todeszahl umschwenkt, geht weg vom Schutz der Gesellschaft hin zur Betrachtung einer einzelnen Krankheit. Das ist etwas völlig anderes.”

Und weiter: “Wir haben jeden Tag 2700 bis 3000 Todesfälle in Deutschland. Andere Erkrankungen sind häufiger: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen und Krankheiten des Atmungssystems. Viele Krebsbehandlungen wurden verschoben.“ Da Corona also “nur noch eine Krankheit von vielen” sei, müssen in der Folge auch die Quarantäne-Regeln fallen, fordert Scherer: “Wir sollten die Regeln überdenken. Das Ziel muss sein: Wer krank ist, bleibt zu Hause. In dem Moment, in dem man sich wieder gesund fühlt, geht man zur Arbeit”, so der Vorschlag des deutschen Familienärzte-Chefs. “So wie man es vor Corona auch getan hat”, denkt sich manch einer beim Lesen dieser Zeilen.