Fachkompetenz, Weiterbildung, Beförderung, Leistungsbereitschaft, Loyalität oder jährliche Inflationsanpassung: Es gibt viele Gründe, warum Unternehmen ihren Mitarbeitern Gehaltserhöhungen gewähren. Doch das grundsätzlich erfreuliche Ereignis führt bei vielen Menschen zu  einem enttäuschenden Ergebnis: Dank der so genannten „kalten Progression“ landet trotz einem erhöhten Bruttogehalt kaum mehr Geld auf dem Konto. Fazit: Die betroffenen Beschäftigten leisten mehr, übernehmen mehr Verantwortung,  die Firmen zahlen höhere Gehälter – und der einzige, der dabei gut aussteigt, ist der Staat.

Die Steuer frisst den Zugewinn weg. Wie kommt es zu diesem Effekt? Die kalte Progression ist eine „Nebenwirkung“ unseres progressiven Einkommensteuermodells, das darauf basiert, dass höhere Einkommen auch höher besteuert werden. Während jemand der nur 11.000 Euro im Jahr verdient keine Einkommenssteuer bezahlen muss, wird nach oben hin immer mehr Geld für den Fiskus abgezogen. Für Einkommen zwischen 11.000 und 18.000 Euro werden 20 Prozent Steuern fällig, für Einkommensanteile bis 31.000 Euro beträgt der Satz bereits 32,5 Prozent und wer  60.000 Euro Bruttogehalt hat, muss für die Differenz zur vorherigen Stufe satte 42 Prozent Einkommensteuer bezahlen.

Wer also das Pech hat, dank der Gehaltserhöhung knapp in einer höheren Steuerklasse zu landen, kommt in den „Genuss“ der kalten Progression. Dieses Besteuerungsmodell sorgt also sehr effektiv dafür, dass sich Leistung und Kompetenz – zumindest monetär betrachtet – kaum lohnt. Besonders ernüchternd wird der Effekt der kalten Progression dann, wenn allgemeine Teuerungen den Realwert des ohnehin bereits spürbar reduzierten Netto-Mehrverdienstes übersteigt.  Auch potentielle Entlastungen durch Steuerreformen können so nicht wirksam werden.

Doppelhammer durch hohe Inflation. Wenn die Preise insgesamt stark steigen – wie bei der derzeit rasanten Inflation – dann profitiert vor allem der Staat, denn höhere Verbraucherpreise bewirken zwangsläufig höhere Steueranteile in den Produkten und Leistungen. Daraufhin steigende Löhne erhöhen wiederum die Einnahmen aus Lohnsteuern beziehungsweise Sozialbeiträgen. Der Thinktank Agenda Austria berechnete für den Zeitraum zwischen 2016 und 2020 Mehreinnahmen durch die kalte Progression für den Staat in der Höhe von etwa 3,6 Milliarden Euro. Für 2022 und 2023 bringt die hohe Inflation laut Agenda Austria dem Budget insgesamt Mehreinnahmen aus Mehrwert-, Lohn- und Einkommensteuer zwischen 7,5 und elf Milliarden Euro.

Bereits seit Jahrzehnten wird von politischen Parteien immer wieder versprochen, dass die kalte Progression abgeschafft und damit steuerliche Erleichterungen ermöglicht werden sollen. In der derzeitigen Krisensituation wird die Abschaffung allerdings zu einer dringenden wirtschaftspolitischen Notwendigkeit. Eine sinnvolle Reform wäre es zum Beispiel, die Steuerstufen regelmäßig an die Inflationsrate anzupassen: Steigen also die Preise, dann sinkt der entsprechende Einkommenssteuersatz.

„Eine solche Reform muss bereits 2023 wirksam werden, um die drohende Lohn-Preis-Spirale abfedern zu können“, betont Christian Pochtler, Präsident der Industriellenvereinigung Wien. „Das ist ein Gebot von Fairness und Gerechtigkeit gegenüber allen arbeitenden Menschen in Österreich“.