Europa habe sich im Streit mit Russland in sämtliche Widersprüche verwickelt. Zu diesem Befund gelangt Ex-Außenministerin Karin Kneissl im Interview mit dem russischen Staatssender “Russia Today”. Wegen des russischen Truppenaufmarsches an der Ukraine verschärfen Europa und die USA nun den Tonfall gegenüber Russlands Staatschef Putin. Andererseits wurde erst kürzlich die russische Gaspipeline Nord Stream 2 fertig gestellt, weil Deutschland russischer Gas braucht, und nicht vorhat, künftig darauf zu verzichten.

Sollte sich Deutschland an schwerwiegenden Sanktionen beteiligen – wobei zurzeit nicht klar ist, ab wann solche Sanktionen verhängt werden – wäre der Schaden für Deutschlands Wirtschaft enorm. Fraglich ist auch, wie weit Washington mit seinem Druck auf Berlin gehen werde, schließlich wolle US-Präsident Joe Biden sicher nicht die transnationale Zusammenarbeit gefährden. “Die Situation hat eine Ambiguität”, sagt Kneissl.

Für Deutschland ist russisches Gas billiger

Die USA verkaufen zurzeit ihr Gas und Öl nach Asien, wo auch dafür gezahlt wird. Die Europäer kaufen hingegen nicht bei den Amerikanern, denn sie kriegen das Gas billiger von den Russen. Deutschland werde kaum auf russisches Gas verzichten wollen, schließlich ist Gas zurzeit ohnehin schon knapp. Sogar dass Haushalte frieren müssen und Industrien vorübergehend ausgeschaltet werden, wird nicht mehr ausgeschlossen. Der durchschnittliche deutsche Stromzahler zahle bereits das Doppelte eines Franzosen.

“Das ist eine hausgemachte Krise”, sagt Kneissl, die sie auf das Missmanagement bei der Energiezufuhr zurückführt. Die Energiepolitik des Staates habe die Aufgabe, für sichere Energiezufuhr zu sorgen. Saubere Energie und Klima müssten dabei eine Rolle spielen, könnten aber nicht allein ausschlaggebend sein.

Mittlerweile mehr Realismus in der EU

Bei EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sei in der Zwischenzeit mehr Realismus eingekehrt. Noch vor einem Jahr habe Von der Leyen ausschließlich auf Wind und Solarenergie gesetzt. Mittlerweile spielen für sie Gas und Atomenergie ebenfalls eine wichtige Rolle. “Es gibt zumindest ein klein wenig mehr Realismus”, meint Kneissl. Der Hintergrund: Van der Leyen sei als Kommissionspräsidentin “eine französische Erfindung”. Als deutsches Kabinettsmitglied sei sie noch klar gegen Atomenergie gewesen. “Nun muss sie dafür sein.” Das sei ein Rückschlag für die deutsche Ampelkoalition, denn Deutschland hat sich seit der Energiewende auf den Atomausstieg eingelassen, und davon rücke es nun nicht mehr ab.

Fakt ist auf jeden Fall: Deutschland brachte sich mit der Energiewende in Nöte und braucht nun mehr Energie. Die Widersprüche der Energiepolitik führten schließlich zu Widersprüchen in der Geopolitik.