Lieber Wiener Rathausplatz!

Am Montag ist es wieder soweit, dann wirst du wieder zum Mittelpunkt des alljährlichen Mai-Aufmarschs der Sozialdemokratie. Aus allen Richtungen der Stadt werden sie zu Dir strömen und sich unter der Spitze des Rathausmannes versammeln – Genossen, Gewerkschafter, Bezirksräte, Vorsteher, Jusos, Frauenorganisationen, Funktionäre, Abgeordnete, Altvordere. Also einfach alles, was rot war, rot ist und rot bleiben will.

Der 1. Mai ist da, der höchste Feiertag in der Welt der SPÖ. Nelken werden an die linke Brust angebracht, Fahnen aus dem Keller geholt, Plakate gestaltet und schon Tage vorher werden die Stimmbänder geschont, um dann den richtigen Ton zu treffen, wenn mit anderen Genossen die Internationale angestimmt wird.

Ansammlungspunkt eines Wahlverlierervereins

Du hast in der Geschichte sicher schönere und größere Mai-Aufmärsche erlebt. Was waren das noch für Zeiten! Als alle stolz ihrem Parteivorsitzenden vorne am Rednerpult zujubelten, der mit klassenkämpferischen Tönen für mehr Gerechtigkeit, Umverteilung und dem Kampf gegen die da oben den Rathausplatz zum Brodeln brachte. Du warst sozusagen der Hexenkessel der Sozialdemokratie, der Ort der roten Glückseligkeit, der Platz der Befehlsausgabe des Kanzlers an seine roten Mitstreiter. Davon ist heute nichts mehr zu sehen.

Heute bist du nur noch ein Ansammlungsplatz eines Wahlverlierervereins, der sich verzweifelt am Fuße der letzten roten Hochburg trifft. Es ist ein Treffpunkt des Streits, des Gerangels und der Ellbogenchecks geworden. Schuld daran sind vor allem drei Gruppierungen, die diesmal neu dabei sind und alle Blicke auf sich ziehen werden. Die Pam-Anhänger, die Dosko-Unterstützer und die Babler-Fans. So wird der Mai-Aufmarsch zu einer Demonstration des gegenseitigen Misstrauens und der Missgunst. Pamela Rendi-Wagner hat natürlich Heimvorteil. Auch ihr Schutzpatron Michael Ludwig wird das Rednerpult für sie zu nutzen wissen. Schließlich trifft man sich bei dir, im Herzen von Wien und nicht in einer Buschenschank am Neusiedlersee.

Der 1. Mai wird zur verpassten Chance

Auch wenn die SPÖ-Spitzen sicher wieder freundlich von der Bühne lächeln werden, das rote Taschentuch im Takt geschwungen wird und das Wort „Freundschaft“ mehrmals aus den Lautsprechern über dich bis zum Burgtheater schallen wird, die schwere Krise der SPÖ wird dennoch überall zu sehen und zu spüren sein. Zu tief sind die Gräben und zu sehr hat man sich schon auf persönlicher Ebene bekämpft. Der 1. Mai wird zu einer verpassten Chance für die SPÖ. Die so oft geforderte Geschlossenheit hätte man an diesem Tag zeigen und damit ein Signal an die rund 148.000 (zum Teil ratlosen) SPÖ-Mitglieder senden können, die bis zum 10. Mai über die Vorsitzfrage abstimmen. Stattdessen können wir uns auf ein weiteres Kapitel von „DSSDSSV“ („Die SPÖ sucht den Super-SPÖ-Vorsitzenden“) einstellen.

Die Österreicher haben die Signale verstanden – und die Genossen...?

Du, lieber Rathausplatz, brauchst den guten alten Zeiten keine Träne nachweinen. Du kannst viel mehr, wenn ich an die vielen glücklichen Gesichter beim Eiszauber, Christkindlmarkt, Steirer-Frühling oder Sommer-Festival denke. Lass dir deine Würde nicht von einem Haufen zerstrittener Sozialdemokraten nehmen.

Vielleicht verinnerlichen die Genossen am 1. Mai die eine Zeile aus dem Text der Internationalen. „Völker, hört die Signale!“ Herr und Frau Österreicher haben die Signale aus der SPÖ schon längst verstanden. Mit fehlt nur der Glaube, ob es auch schon die Genossinnen und Genossen verstanden haben.

Ein Hoch auf den 1. Mai!

Herzlichst
Dein
Exxpressicus