
70 Jahre nach 1955: Österreich ist geil!
1955 verkündete Julius Raab feierlich: „Österreich ist frei.“ 2025 jubelt Europa: „Österreich ist geil!“ Verleiht der ESC-Sieg Österreich heute neue kulturelle Souveränität – oder nur drei Minuten Glanz auf einer immer grelleren Bühne?

70 Jahre, nachdem Julius Raab den Staatsvertrag im Schloss Belvedere unterzeichnete, steht Österreich erneut im Rampenlicht – diesmal nicht mit Protokollmappe und Staatsmiene, sondern mit Falsett. Der junge Wiener Countertenor JJ bringt das Land mit einer Stimme in die Schlagzeilen, die man eher in barocken Oratorien oder Kathedralen vermuten würde – nicht auf der ESC-Bühne.
Vielleicht war es schon am 15. Mai 1955 ein Hauch von Softpower, der Österreich auf die diplomatische Bühne zurückbrachte – mit Kaffeehauskultur, Musik und Charme. Heute wirkt diese Softpower anders: schillernd, digital, viral – und doch wieder wirkungsvoll.
JJs Können ist unbestritten. Und doch stellt sich die Frage: Gehört ein solcher Sänger wirklich auf die ESC-Bühne? Oder nicht doch eher an die Staatsoper zurück – dorthin, wo er ausgebildet wurde und wo Stimme und Kunst zählen, nicht Kampagnen und Konfetti-Kanonen?
Alte Technik, neue Bühne
Die Countertenor-Technik, die JJ bravourös beherrscht, reicht weit zurück: Hohe Männerstimmen prägten geistliche Musik wie Oper gleichermaßen. Neben einst gefeierten Kastraten, für die Monteverdi, Scarlatti, Händel, Mozart und Rossini komponierten, entwickelte sich auch die Kunst des Falsett-Gesangs weiter – eine Gesangstechnik, mit der Männer in Alt- oder sogar Soprantönen brillieren. Spätestens mit der Wiederentdeckung der Barockoper im 20. Jahrhundert feiert der Falsett-Gesang sein Comeback.
Wien lieferte ein ESC-Gesamtkunstwerk mit alter Schule und neuer Show – und einer Stimme, die wie ein barocker Zaubertrick im Pop-Gewand klingt.

JJ – mehr als ein Stimmwunder
Johannes Pietsch alias JJ wurde an der Opernschule der Wiener Staatsoper ausgebildet, wo er bereits in „Macbeth“, „Billy Budd“, „Tschick“ und anderen Produktionen mitwirkte, und verfeinert seine Stimme derzeit an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK) bei Kammersängerin Linda Watson. Er springt mühelos zwischen Arie und Autotune, zwischen Liederabend und Lasershow. Barock trifft auf Beats.
Wien erlebt eine bemerkenswerte Renaissance der Countertenor-Kunst: Maayan Licht aus Tel Aviv begeisterte im Theater an der Wien mit „Ambleto“ und hat über 100.000 Follower auf Instagram.
Dennis Orellana aus Honduras feiert mit „Isacco“ in der Kammeroper zurzeit Erfolge. Beide Künstler bestätigen den wachsenden Trend und die steigende Popularität dieser Gesangstechnik.
Die Wiener Staatsoper und die MUK bieten nicht nur eine exzellente Ausbildung, sondern auch eine Plattform für innovative Interpretationen. Alois Mühlbacher, einst Wunderkind bei den St. Florianer Sängerknaben, interpretiert heute Michael Jacksons „Billie Jean“ im barocken Stil und leitet das Barock Festival St. Pölten. Diese kreative Verbindung von Tradition und Moderne zeigt, wie vielseitig und aktuell die Countertenor-Stimme sein kann.
Queer als Programm?
Beim ESC werden künstlerische Maßstäbe allerdings zunehmend von politischen, ideologischen überlagert. JJ hat sich öffentlich als queer geoutet – wie viele ESC-Künstler vor ihm. Duncan Laurence (Niederlande 2019), Conchita Wurst (Österreich 2014) oder Loreen (Schweden) wurden vor ihm zum Symbol queerer Repräsentation. Das muss eine kritische Frage erlauben: Gehört das zur Bewerbungsmappe? Zählt beim ESC noch die künstlerische Leistung – oder primär die politische Botschaft?
JJ überzeugt durch Technik und Stimme – nicht durch Etikett. Sein Gesang hat nichts mit „queer“ oder „woke“ zu tun. Die Countertenor-Tradition ist uralt – und nie ein ideologisches Statement gewesen. So soll es auch bleiben!
Österreich hat keine neue Staatsdoktrin, aber vielleicht ein neues Lebensgefühl
Österreichs ESC-Sieg erntete auch Bewunderung. Die britische Zeitung The Guardian schrieb: „Mit seinem Sieg beim Eurovision Song Contest – dem ersten für Österreich seit 11 Jahren – hat er dem Land einen bedeutenden kulturellen Erfolg beschert. Sein Lied ‚Wasted Love‘ zollt sowohl der reichen Operntradition als auch der modernen Musikszene des Landes Tribut.“
Die österreichisch-italienische APA-Korrespondentin Micaela Taroni kommentierte: „JJ gewann wegen seiner stimmlichen Qualitäten. Als Countertenor erreicht er die höchsten Töne. Er war ein Außenseiter, vereint aber musikalische Moderne mit Österreichs Opernerbe.“
Drei Minuten Musik, ein barockes Revival, ein Land im ESC-Fieber – und ein junger Künstler Geschichte und Eigenwilligkeit verbindet. Der Jubel ist wir vor 70 Jahren enorm. „Österreich ist geil“ – das ist keine Staatsdoktrin, aber vielleicht das, was uns in drei Minuten gelungen ist.
Und dennoch: Vielleicht wäre JJs Talent besser an der Staatsoper aufgehoben oder auf als in einer Show, die sich Jahr für Jahr mehr dem schrillen Wettbewerb um Aufmerksamkeit als der Musik verschreibt – und dabei Stimmen wie JJ fast unter ihrem Wert verkauft. Aber wer weiß, vielleicht verschlägt es JJ in die wirklichen Pop-Mekkas: O2 Arena in London, Madison Square Garden oder Wembley Stadium. Das sind Orte, an denen keine Jury entscheidet, sondern das Publikum – und wo nur die Unbestrittenen bestehen.
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