“Wie lange wird der Krieg in der Ukraine noch andauern?”: Diese Frage stellen sich seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar täglich mehr Menschen. Berechtigterweise – doch wenn man das “bigger picture”, also das weltpolitische Gesamtbild, das sich seit vier Monaten um den schrecklichen Angriffskrieg in der Ukraine und die westlichen Solidaritätsbekundungen, Sanktionen und Waffenlieferungen zeichnet, betrachtet, sollte man diese Frage vielleicht umformulieren. Oder neuer – und größer denken, und zwar: “Wie lange wird Putin noch zuwarten, bis er den ganz großen Krieg ausruft?”

Das Spiel mit dem russischen Feuer

Was apokalyptisch und schwarzmalerisch klingt ist leider nicht ganz auszuschließen, und wird durch zwei “große Provokationen” westlicher Länder gegen Russland – so empfindet man es im Kreml – aktuell nicht weniger wahrscheinlich. Putins Sprecher Dimitrij Peskow sprach zuletzt von einer “mehr als ernsten Situation”, auf die Russland mit entsprechenden “Maßnahmen” drohte. Doch wo und warum spielt der Westen aktuell mit dem Feuer? Der eXXpress hat zwei wichtige Ankerpunkte lokalisiert, die eine erneute, noch größere russische Aggression möglich machen könnten.

1. Kaliningrad

Die erste große Provokation, die Moskau ein Dorn im Auge ist, ist die Blockade Kaliningrads (ehemals Königsberg). Bei Kaliningrad handelt es sich um die letzte Exklave Russlands zwischen Polen und Litauen und gehörte früher zum preußischen Reich bevor es nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion überging. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und mit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten behielt sich Russland Kaliningrad als Provinz bei. Doch im Zuge der westlichen Sanktionen gegen Russland hat Litauen seit Samstag den Bahntransit von Waren über sein Territorium nach Kaliningrad verboten, die auf westlichen Sanktionslisten stehen. Laut dem Chef der Gebietsverwaltung in Kaliningrad, Anton Alichanow, betrifft dies 40 bis 50 Prozent aller Transitgüter, wie Baumaterialien und Metalle. Und das gefällt dem Kreml gar nicht.

Moskau nennt diese Maßnahmen “illegal”, spricht von einer “Blockade” – und forderte Litauen zu einer sofortigen Aufhebung dieser Transitsperre auf, andernfalls werde Russland “Maßnahmen zum Schutz seiner nationalen Interessen treffen”, hieß es. Litauen weigert sich – und in Russland werden die Rufe nach “Gegenmaßnahmen” immer lauter. In Talkshows des russischen Staatsfernsehens erhoben Teilnehmer in den vergangenen Wochen mehrfach die Forderung nach der Schaffung eines “Korridors” zwischen Kernrussland und Kaliningrad. Das würde einen Angriff auf die dazwischenliegenden Länder Lettland und Litauen bedeuten…

Der mögliche EU-Beitritt der Ukraine

Nicht weniger am Geduldsfaden Putins schnippselt die EU mit ihrer Empfehlung, der Ukraine den gewünschten Beitrittsstatus in die Europäische Union zu gewähren. Erst am Freitag, nachdem der Vorschlag mehrheitlich in der Kommission beschlossen worden war, jubelten sowohl EU-Komissionschefin Ursula von der Leyen und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj über diesen “historischen Schritt”. Historisch für die Ukraine – aber womöglich auch eine historische Provokation für Russland, dass von Anfang an mit Konsequenzen gedroht hatte, wenn die EU (oder die NATO) die Ukraine aufnehmen wollen würden. Nun ist der erste Schritt für den Beitritts-Status der Ukraine getan, während Schweden und Finnland schnellstmöglich der NATO beitreten wollen – ebenfalls ein Dorn im Auge des Kremls.

Ob die Ukraine nun wirklich der EU beitreten wird, ist freilich noch nicht entscheiden – die Kommission kann lediglich (wie erfolgt) eine Empfehlung abgeben, die Macht der Entscheidung liegt hier aber beim EU-Parlament. Und diese Entscheidung will wohlüberlegt sein – so laut die Stimmen dafür sind, so groß ist auch der Veto-Tsunami, der dagegen spricht (der eXXpress berichtete). Österreich hat sich hier indessen bereits klar positioniert: Wir sind für eine Zwischenlösung – keinen Beitritt, aber eine mögliche Zusammenarbeit, ganz ähnlich wie es bereits der französische Präsident Emmanuel Macron vor ein paar Wochen vorgeschlagen hatte.

Tage der Entscheidung

Wie in diesen heiklen Themen nun weiter entschieden wird und welche Maßnahmen in welche Richtung gesetzt werden, wird entscheidend sein – nicht nur was den Verlauf des Krieges in der Ukraine und die Geschichte der EU betrifft, sondern womöglich auch was die Weltgeschichte und die Ausweitung der Kampfhandlungen betrifft. Es ist ein kleines Zünglein an der Waage – doch wenn Moskau einen Raketenangriff auf das Baltikum beordern sollte – ja, dann sind die Würfel für den Ausbruch eines Dritten Weltkriegs womöglich endgültig gefallen.