Polemik statt offener Diskurs, gravierende politische Entscheidungen ohne solide Datenbasis: Drei Jahre nach Pandemie-Beginn geht der Gesundheitswissenschaftler Martin Sprenger (59) von der Uni Graz mit der heimischen Corona-Politik hart ins Gericht. Sämtliche Maßnahmen seien unbegründet getroffen worden, Kritiker wurden als „Covidiot“ und „Schwurbler“ diffamiert, und Österreichs Nachbarland die Schweiz habe die Pandemie weit besser überstanden, bei wesentlich zurückhaltenderem Corona-Management.

Weniger Tote und Spitalsfälle in der Schweiz

Vor allem das Schweizer Beispiel müsste die heimische Politik im Rückblick nachdenklich stimmen: „Weniger Lockdowns, die Schulen nur sechs Wochen geschlossen, keine FFP2-Maskenpflicht, zehnmal weniger getestet, selbst die Impfquote ist niedriger. Am 1. April 2022 hat die Schweiz alle Maßnahmen beendet“, schreibt der Arzt in einem Kommentar für die „Kleine Zeitung“. „Trotzdem gab es in der Schweiz deutlich weniger mit oder an Covid-19 Verstorbene und nur halb so viele Krankenhausfälle.“ Selbst die Übersterblichkeit war niedriger, ebenso der Vertrauensverlust in Regierung und Demokratie, und auch die wirtschaftlichen Einbußen waren nicht so massiv.

Für kurze Zeit hat Sprenger der Corona-Taskforce von Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne, Bild) angehört. APA/GEORG HOCHMUTH

Überrascht ist Martin Sprenger darüber anscheinend nicht. Für sämtliche Entscheidungen haben eine solide Datenbasis gefehlt, und das sei sogar noch heute so. Dabei hat Sprenger genau davor von Anfang an gewarnt. Bevor er die Corona-Taskforce der Regierung verlassen hat, schrieb er am 27. März 2020 an alle Taskforce-Mitglieder: „Es kann und darf nicht passieren, dass im Jahr 2020 die mit Abstand schwerwiegendsten politischen Entscheidungen für unsere Gesellschaft getroffen werden, ohne die dafür notwendige Wissensbasis geschaffen zu haben. Eine politische ‚Steuerung‘ im Blindflug und ohne Navigationsinstrumente wäre fahrlässig.“

Zu sämtlichen Maßnahmen fehlen bis heute solide Studien

Von sämtlichen Covid-Regeln wissen wir bis heute nicht, was sie gebracht haben, weil methodisch solide Studien fehlen, klagt der Gesundheitswissenschaftler. Den Nutzen sämtlicher nicht-medizinischer Maßnahmen – ob Lockdowns, Schulschließungen, Home Office, Isolation älterer Menschen, 2G oder 3G – kennen wir in Ermangelung solider Befunde ganz einfach nicht.

Kaum berücksichtigt wurde aber, wie ungleich das Erkrankungsrisiko verteilt war. Schwere Krankheitsverläufe seien bei Übergewicht und Diabetes deutlich wahrscheinlicher. „Das Risiko, wegen Covid-19 auf einer Intensivstation zu landen, war für ärmere Menschen immer am höchsten.“ Gleichzeitig hatten auch sämtliche Corona-Maßnahmen unterschiedlich gravierende Auswirkungen, je nach Einkommen und Bildungsniveau. „Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben die bestehende Ungleichheit weiter vergößert. Das wurde viel zu lange ignorniert.“

Demonstrationen gegen die Corona-Politik fanden Ende 2021 in ganz Österreich statt.Michael Gruber/Getty Images

Kampfbegriffe gegen Kritiker statt offener Diskurs

Scharfe Kritik übt der Arzt auch an der öffentlichen Auseinandersetzung. „Die einzigartige Politisierung bescherte der österreichischen Regierung den größten Vertrauensverlust aller EU-Länder.“ Viel zu wenig gefördert wurde hingegen der offene Diskurs. „Stattdessen wurden andere Meinungen diffamiert, mit neuartigen Kampfbegriffen wie ‚Covidiot‘ und ‚Schwurbler‘ diskreditiert.“

Umso wichtiger – und heilsamer – sei nun eine „umfassende Aufarbeitung“.