Das beispiellose Wahl-Chaos in Berlin beschäftigte noch wochenlang die deutschen Medien: Teils fehlten bei der Bundestagswahl im September 2021 schlicht die Wahlzettel, dann sorgten sie wieder für unzählige ungültige Stimmen, weil die Wahlzettel falsch ausgeteilt worden. Sogar vor verschlossenen Wahllokalen sind einige Wähler gestanden. Doch nun könnten die Pannen in Berlin noch ein gerichtliches Nachspiel haben.

Gemäß dem deutschen Online-Magazin “Tichys Einblick” versuchte die zuständige Wahlleitung nämlich, das Chaos womöglich bewusst zu vertuschen. Dem Medium liegt nämlich das Protokoll für ein Wahllokal vor.

Liste für einen anderen Wahlbezirk lag auf

Es geht um das Wahllokal 20512 im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. “Für die Zweitstimme zum Berliner Abgeordnetenhaus lagen im Wahlbüro die falschen Stimmzettel vor – nämlich welche für Charlottenburg-Wilmersdorf”, berichtet “Tichys Einblick”. “In Berlin wird sowohl nach Landes- als auch nach Bezirksliste gewählt – insofern zeigt der Wahlzettel Charlottenburg-Wilmersdorf andere Kandidaten als der Wahlzettel Friedrichshain-Kreuzberg. Wer also die Liste einer Partei ankreuzte, wählte die Liste mit Kandidaten des Nachbarwahlkreises. Ein schon absurder Vorgang.”

Wahlvorstand ließ Wahl fortsetzen

Doch damit noch nicht genug: Dass im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg die Liste für den Nachbarwahlkreis aufgelegen ist, fiel dem Wahlvorstand im zuständigen Wahlbüro durchaus rasch auf, wie aus dem Protokoll hervorgeht. Doch anstatt einzuschreiten, wurde die Wahl mit falschen Stimmzetteln einfach fortgesetzt. Im Protokoll heißt es: “Von dort kam zunächst die Weisung, mit der Wahl mit den falschen Wahlzetteln fortzufahren”.

Nachträglich ein Fünftel der Stimmen für ungültig erklärt

Doch es kommt noch besser. Im Protokoll steht weiter: “Etwa 2 Stunden später bekamen wir die Information, dass die ‚Charlottenburg-Wilmersdorf‘-Wahlzettel als ungültig zu behandeln sind. Bis dahin hatten 82 Personen diese Wahlzettel genutzt”. Das bedeutet: “Fast jede fünfte abgegebene Stimme in diesem Wahllokal wurde für ungültig erklärt!”, berichtet “Tichys Einblick”. Das soll kein Einzelfall sein: “Da offensichtlich in sehr vielen Wahllokalen falsche Stimmzettel auslagen und die abgegebenen Stimmen im Nachhinein für ungültig erklärt wurden, vervielfacht sich der Fehler.”

Zum Wahllokal – doch liegt dort auch die richtige Liste auf?Sean Gallup/Getty Images

Das Online-Medien wird das 40.000 Seiten lange Protokoll untersuchen, um zu ermitteln, in wie vielen Fällen Wähler um ihre Stimme betrogen wurden. Allein im betroffenen Bezirk wurden schätzungsweise rund zehntausende Wähler getäuscht. Doch “Tichys Einblick” schätzt, dass das Ausmaß der Wählertäuschung noch viel größer ist. Diese Vorgangsweise hätte dann System gehabt. Auf das Chaos folgte demnach die bewusste Täuschung in großem Umfang.

"Menschen wurden vorsätzlich um ihr Wahlrecht gebracht"

Marcel Luthe, Kandidat zum Abgeordnetenhaus, hat aufgrund der Enthüllungen bereits Strafanzeige gegen die Verantwortlichen beim Bezirkswahlamt eingereicht. “Meines Erachtens hat man hier 80 Menschen vorsätzlich um ihr Wahlrecht gebracht – und auch das dürfte nur die Spitze des Eisberges sein!”, erklärt er.

In der Anzeige spricht er von einer “strafbaren Wahlfälschung durch Bewirkung eines ‚sonstigen unrichtigen Ergebnisses‘ im Sinne des § 107a StGB”. Dieses Vorgehen habe ein „falsches Ergebnis einer Wahl“ herbeigeführt, da der Wählerwille nicht umgesetzt worden sei. Denn es gehe nicht um anonyme Listen, sondern um konkrete Personen in der Reihenfolge der Liste – von einem anderen Ort.

Nach der Wahl setzte sich das Chaos fort

Drei Tage nach der Wahl nahm die Angelegenheit nochmals eine “bemerkenswerte Wendung”: “Während die betreffenden Stimmzettel am Wahlabend vom Wahlvorstand in Absprache mit dem Wahlamt für ungültig erklärt wurden, wurden sie drei Tage später in Teilen offenbar wieder zu gültigen Stimmen erklärt. Aus ungültigen Wahlzetteln wurden zunächst gültige Stimmen, diese wurden zu ungültigen erklärt und später wiederum zu gültigen Stimmen auf ungültigen Wahlzetteln.”

Der Herausgeber Roland Tichy unterstreicht: “Es ist ein in der Geschichte Deutschlands bislang unbekannter Vorgang an Willkür, wie mit dem heiligsten Gut der Demokratie umgegangen wird – der Wählerstimme.”