Der Konventionalismus ist der ideale Lebensstil des österreichischen Massenmenschen. Man gibt sich selbst auf und bekommt im Ausgleich dafür eine Rundumbetreuung von Parteienstaat, Gewerkschaften und der Kirche. Der durchschnittliche Österreicher ist ein braver Mitmacher, der aber hinter vorgehaltener Hand ständig räsoniert, und zwar über alles. Offen spricht er über sein Unbehagen aber nicht. Das unterdrückt er lieber, vergiftet dadurch seine Seele und wird in der Folge zu einem Menschen voller Ressentiments und Dünkel. Ich habe den Vergleich. Während der Hamburger dazu neigt, trocken zu sagen, was er denkt, ist der Wiener ein Freund der süßlichen Lüge und der Niedertracht. Artikuliert der eine seinen Unmut und will Meinungsverschiedenheiten austragen, schluckt der andere seine Aggressionen mit freundlichem Gesicht hinunter, rächt sich aber auf das Bösartigste, wenn er die Chance dazu bekommt. Die österreichische Staatsoperette ist unerträglich. Ihr schwülstiges Pathos fühlt sich an, als würde man in eine Marzipantorte beißen, die beim Zerkauen im Mund immer mehr wird und eine dermaßen penetrante Süße hinterlässt, dass man augenblicklich in eine Salzgurke beißen möchte. Das österreichische Staatsfeiertagspathos und den oberlehrerhaften und pompösen Katholizismus, dessen wuchtiges Orgelspiel die Gläubigen nicht erhebt, sondern förmlich auf die Knie niederdrückt, kann man nur ertragen, wenn man von früh bis spät alles ironisch dekonstruiert, was einem begegnet.

Die Franzosen hatten ihre Revolution, die Österreicher ihr Biedermeier

Was man irrtümlicherweise als „Wiener Schmäh“ bezeichnet, ist in Wirklichkeit verzweifeltes Giftspritzen von überangepassten Mitmachern, die alle hassen, die sich Freiheiten gestatten, an die sie selbst nicht einmal zu denken wagen. Und das Wiener Heurigenlied ist nichts anderes als der Jammergesang einer melancholischen Kulturgemeinschaft, die es niemals gewagt hat, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und mutig für ihre Überzeugungen einzutreten. Die Franzosen hatten ihre Revolution, die Österreicher ihr Biedermeier. Und das Biedermeier ist in unserem Land zur Dauereinrichtung geworden. Biedersinn, soweit das Auge reicht und das Ohr hört, gepaart mit einer ängstlichen Duckmäuserei und einem schleimigen Opportunismus, dessen Anhänger ganz leise durchs Land gleiten, immer darauf bedacht, ein paar Vorteile und Privilegien aufzusammeln. Nur wenn man Psychopharmaka schluckt, stark trinkt oder Drogen nimmt, kann man die über allen liegende Atmosphäre der Unehrlichkeit, Heimtücke und Garstigkeit ertragen. Das hat Karl Nehammer völlig zurecht so ähnlich thematisiert.

Politik: Der permanente Krieg zwischen fanatischen Glaubensgemeinschaften

Pathos kommt immer dann auf, wenn ein Krieg aufzieht oder schon tobt. Wenn ich jetzt an Krieg denke, dann nicht an das unsägliche Schlachten in der Ukraine, das Donald Trump hoffentlich schnell beenden wird. Nein, ich erlebe den politischen Alltag in Österreich als Kriegszustand. Wie in der Zwischenkriegszeit haben sich Lager gebildet, die wie Glaubensgemeinschaften agieren und zum Glück noch keine paramilitärischen Verbände betreiben, sieht man einmal von den schwarzen Sturmscharen, die sich „Antifa“ nennen, ab. Die politischen Lager sind nach einem manichäischen Plan gebildet, sie repräsentieren absolute, moralische Gegensätze und die Lösung des Konflikts, in dem sie sich befinden, kann nur durch die totale Vernichtung, die rückstandslose Auslöschung des Kontrahenten erreicht werden. Die Stimmung erinnert an jene der Zeit der Kreuzzüge. Stürzte man sich dort unter der Losung „Gott will es“ in den Kampf, so ist es heute „Rettet die Demokratie“. Folklore ist ja immer eine Qual,

Demokratiefolklore besonders. Und zwar deshalb, weil Tradition und Volkstum genauso wie der Demokratiebegriff nichts anderes sind als inhaltsleerer Diskurs-Ramsch, nur mehr Wechselhüllen mit beliebigen Inhalten. Beispiel gefällig? Gerne. In den 1980er Jahren waren Instrumente der direkten Demokratie der Inbegriff demokratischer Gesinnung, heute gelten sie, überspitzt formuliert, als rechtsextrem. Mit ihrer Hilfe soll der Pöbel gegen die Vernunft mobilisiert werden. Oder: In den 1980er Jahren war es von höchster demokratischer Güte, wenn man das kulturelle Erbe pflegte. Ganz Wien strebte in die Maria Theresia-Ausstellung im Schloss Schönbrunn. Und selbst in der DDR war das Luther-Gedenken omnipräsent. Heute wird österreichische, deutsche, mitteleuropäische Kultur behandelt wie Abfall. Typisch dafür die Geste von Angela Merkel, die anlässlich eines EU-Treffens eine deutsche Fahne gereicht bekam und diese mit spitzen Fingern irgendwohin ins Abseits warf. Landesfahnen sind auf linken Demos unerwünscht. Sie werden als Zeichen des Rechtsradikalismus gesehen und dem Träger entrissen und im Anschluss zerstört.

Politischer Diskurs zur Schlagwort-Kasperliade verkommen

Der Streit zwischen den Lagern ist, man verzeihe mir den Ausdruck, zu einer lächerlichen Schlagwort-Kasperliade herabgekommen. Orban-Freund, Putin-Knecht, prorussische Propaganda, Faschist, Nazi, Rechtsextremer, Globalist, Austrofaschist, Schwurbler, Corona-Leugner, Impf-Nazi, Öko-Kommunist, grüner Kommunismus, die Aufzählung könnte man schier endlos fortsetzen. Alle diese Begriffe eint eines, sie haben keinen analytischen Wert aber alle ausnahmslos die Funktion, zu diffamieren und abzuwerten. Und auch eine Reflexion darüber, ob die jeweils acht deutschen Fahnen, die beim AfD-Parteitag links und rechts der Bühne standen, weil H der achte Buchstabe des Alphabets ist, „Heil Hitler“ bedeutet haben können, ist ein lächerlicher Versuch der Verunglimpfung, nicht mehr. Das Schlimmste aber an einer diskursiven Kriegskultur ist, dass man sich zwischen den streitenden Seiten entscheiden muss und keine Grenzgänge erlaubt sind. Das geht so weit, dass man nicht einmal Zeitschriften lesen darf, die vom ideologischen Gegenüber herausgegeben werden, geschweige denn in ihnen publizieren. Auch Freundes- und Bekanntenkreise sind jetzt politisch monochrom, FPÖ-Wähler, Grünwähler und SPÖ-Wähler durchmischen sich nicht mehr. Es herrscht politische Apartheid. Wer mit einer politisch falschen Person zusammentrifft, kann im schlimmsten Fall fotografiert und im linken Kampfblatt „Antifa-Info“ „geoutet“ werden.

Grenzgang verboten, es gilt das absolute Reinheitsgebot

Zurück zur Furcht vor der Freiheit. Die Freiheit, zwischen linken und rechten Milieus hin und her zu wechseln, zu beiden Seiten Kontakt zu haben, ist genauso unmöglich, wie in den 1980er Jahren zwischen der DDR und der BRD spontan hin- und herzureisen. Sich die Freiheit zu nehmen, Karl Marx und Ernst Jünger gleichermaßen zu lesen, ist politisch lebensgefährlich. Auf beiden Seiten wird hundertprozentige Gefolgschaft verlangt. Es gilt das absolute Reinheitsgebot. Wer Herbert Kickl kritisiert, ist unter Rechten ein Verräter, wer Michael Ludwig kritisiert, unter Linken. Eingemauert haben sich die Rechten und die Linken. In der ideologischen Trutzburg ist man in Sicherheit, weil nicht den Argumenten des „Fremden“ ausgesetzt. Begegnungen gibt es allenfalls im Straßenkampf oder im parlamentarischen Leben, wo man sich anbrüllt. Dass das Ende des Diskurses über Gesinnungsgrenzen hinweg die ärgste Form der Demokratiegefährdung ist, die es geben kann, sieht keiner. Es ist ja so schön kuschelig in der Blase, in der alle gleich denken, gleich sprechen, sich gleich anziehen, die gleichen Bücher lesen und dieselben Parteien wählen. Diversität und Buntheit sind eben auch nur Propaganda-Vokabel. Sie sind lediglich diskursive Kampfstoffe und nicht ernsthafte, begriffliche Repräsentationen einer positiven, gesellschaftlichen Utopie. Die politische Kultur ist heute unerträglich. Auszusteigen und sich auf den Waldgang zu begeben, wird immer naheliegender.