Das typische Muster des School Shootings läuft ab wie folgt: Ein schwer frustrierter junger Mann, der sich durch die Schule um seine Lebenschancen betrogen fühlt, kehrt an den Ort zurück, an dem ihm die größten Kränkungen seines Lebens beschert wurden und begeht ein kühl und rational durchgeplantes Massaker unter Schülern und Lehrern. Im Jargon der Pädagogik wird als Grund für ein solches Exzessverhalten „die unzureichende Bewältigung von relevanten Entwicklungsaufgaben“ angeführt. Schulisches Scheitern ist ein Beispiel dafür. Das nach außen gerichtete Aggressionsverhalten ist typisch für junge Männer. Weibliche Jugendliche richten die Wut über eine Niederlage überwiegend nach innen, also gegen sich selbst, isolieren sich von ihrem sozialen Umfeld und begehen im Extremfall im Stillen Suizid. Laut dem amerikanischen Sozialforscher Jonathan Haidt haben sich in den letzten Jahren die Suizide unter weiblichen Jugendlichen in den Vereinigten Staaten verdreifacht. Seiner Auffassung nach sind sie die Folge des Überkonsums von digitalen Angeboten wie der Social Media-Plattform Instagram. Die jungen Frauen sollen vor allem an den dort propagierten Körpernormen zerbrechen. Die Bilder der gezeigten schönen Körper werden nicht als anregende Vorschläge verstanden, sondern als verpflichtende Norm, was bei jungen Frauen häufig eine toxische, demotivierende, niederschmetternde Wirkung hat.

Schulen als Orte der größten Kränkungen

Eine nahezu originalgetreue Kopie der Ereignisse an der Columbine High School war das Schulmassaker von Erfurt 2002. Weil er wegen schlechter Leistungen aus dem örtlichen Gutenberg-Gymnasium geworfen wurde, plünderte der Schüler Robert Steinhäuser den Waffenschrank des Vaters und erschoss in seiner alten Schule 16 Menschen. Nach begangener Tat brachte er sich um. Warum sich solche Exzesse vor allem in Schulen ereignen, liegt daran, dass diese nicht nur Lernräume, sondern auch die wichtigsten Sozialräume der Jugendlichen sind. An den Schulen konzentriert sich alles das, was für sie überragende Bedeutung hat. Und das sind vor allem die gleichaltrigen Freunde und die wichtigsten außerfamiliären erwachsenen Bezugspersonen, die Lehrer. Verliert man in der Schule Akzeptanz, Achtung und Respekt, so kann dies das gesamte Lebenskonzept ins Wanken und zum Einsturz bringen. Dass die Schule unter Jugendlichen nicht selten zum Ort der größten Kränkung wird, zeigen schon Werke der Weltliteratur wie „Die Verwirrung des Zöglings Törleß“ von Robert Musil oder der legendäre Roman „Der Schüler Gerber“ von Friedrich Torberg. Im zweiten scheitert der Protagonist der Handlung an seinem sadistischen Mathematiklehrer Kupfer, der unter Schülern „Gott Kupfer“ genannt wird. Am Ende stürzt sich Gerber aus dem Fenster und begeht Suizid. Sein Risikoweg führt also nach innen, er richtet die Wut, die aus seinem Scheitern resultiert, nicht nach außen, sondern gegen sich selbst. 

School Shooting als juveniles Problemverhalten in der Inszenierungsgesellschaft

Der erweiterte Suizid in Form des School Shootings ist typisch für die Jugendphase. Im Erwachsenenalter wird ein solches Verhalten deutlich seltener angetroffen. Das ist ein Hinweis darauf, dass sich Jugendliche in einer außergewöhnlich vulnerablen Lebensphase befinden und deshalb mit ihnen möglichst achtsam umgegangen werden sollte. Die wichtigste präventive Maßnahme in diesem Kontext ist die Schaffung eines positiven sozial-emotionalen Klimas an den Schulen. Dies bedeutet ganz konkret: Anerkennung für gute Leistungen, eine angstfreie Lernatmosphäre, klare Regeln, wertschätzende Feedback-Kultur und eine Schulgemeinschaft, in der sich der einzelne Schüler sicher und aufgehoben fühlen kann. Es erhebt sich an dieser Stelle aber auch die Frage, warum jugendliche Gewaltexzesse heutzutage einen nahezu drehbuchhaften Verlauf haben und sich überwiegend nach außen richten. Der Schüler Gerber hat sich still und leise aus dem Fenster gestürzt, während sich heute School Shootings ausbreiten, die geradezu nach einem kulturellen Skript abzulaufen scheinen. Das stille melancholische Dahinscheiden ist dem spektakulären, mediengerechten Abtritt von der Bühne des Lebens gewichen. Für diese neue Form des juvenilen Problemverhaltens ist zweifellos unsere Medienkultur und die Inszenierungspflicht, die sie Jugendlichen abverlangt, verantwortlich. Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Sammeln von Aufmerksamkeitskapital zum Leitmotiv des Lebens geworden ist. Der Idealberuf vieler Jugendlicher ist der des Influencers. In ihm geht es ausschließlich darum, durch spektakuläre Aktionen und Aktivitäten auf den digitalen Bühnen des Internets möglichst viele Follower hinter sich zu versammeln und Likes zu generieren. Wer die meisten Follower hat, ist der Hero und verdient nebenbei das meiste Geld. Eine solche Medienkultur forciert das Ideal der Außenorientierung. Ein außenorientierter Mensch handelt nicht nach inneren Werten und Überzeugungen. Er orientiert sein Handeln am Feedback seiner Umwelt. Ist dieses positiv, ist das, was getan wurde, richtig. In einer Inszenierungsgesellschaft wird man also nicht für moralisch wertvolles Handeln belohnt, sondern für eines, dass in der sozialen Umwelt gut ankommt. In der egomanischen Inszenierungsgesellschaft darf nicht einmal der Tod ein stiller und heimlicher sein. Selbst er muss ein Spektakel sein, das die Menschen, wenn es sie schon nicht begeistert, zumindest in tiefe emotionale Erschütterung versetzt und erstarren lässt. Der Tod hat damit seinen intimen Charakter abgeschüttelt. Er ist nun Erregungsgegenstand unter vielen. Ein Stück gut verkäufliche Emotionsware. 

Der Suizid als postmoderne Form der narzisstischen Selbstinszenierungellschaft

In der Inszenierungsgesellschaft genügt es nicht mehr, einfach zu sterben. Selbst der finale Abgang muss ein eindrucksvolles Spektakel sein. Und dieses wird sorgsam geplant und orientiert sich an überzeugenden Vorbildern. Darin liegt der Grund, dass Attentate und School Shootings sich gleichen wie Abziehbilder. Was in der Vergangenheit erfolgreich war und wofür die Medien durch aufgeregte Berichterstattung für ausreichende Anerkennung gesorgt haben, wird immer wieder reinszeniert. Denn als Anerkennung versteht man in postmoralischen Zeiten nicht nur das positive Feedback. Es gilt auch als Erfolg, wenn sich die Medien und die Gesellschaft in Krämpfen des Grauens winden. Heute zählt einzig die Mobilisierung von Affekten und Emotionen, egal ob sie erfreulich oder unerfreulich sind. Auch Panik, Angst, Entsetzen und absolute Traurigkeit unter die Menschen zu bringen, gilt als Verdienst. Wenn Medien und Politik weiterhin über jedes Stöckchen springen, das ihnen von bestialischen Losern zugeworfen wird, wird das Inferno des Grauens niemals enden, ob es nun in Afghanistan, dem Iran, in Gaza oder in Erfurt, Winnenden oder Graz stattfindet. Nur wenn die Bildschirme dunkel bleiben und die Titelseiten der Zeitungen bilderlos, sobald das Schreckliche in Erscheinung tritt, kann das ununterbrochene Inferno zumindest gemildert werden. Setzt man tausendfach Abbildungen des Bösen in Umlauf, fördert man es. Dank an den Kurier, dass er pietätvoll die Titelseite am Tag nach dem Drama in Graz frei von dramatischen Bildern gehalten hat. Offenbar das einzige Medium in Österreich, wo man verstanden hat, welche Form von Kommunikation man vermeiden muss, um den aggressiven Flächenbrand der Gewalt, der um uns herum täglich an Häufigkeit und Intensität gewinnt, nicht auch noch zu fördern. Man muss den Narzissten den Spiegel zerschlagen, damit sie sich nicht an ihren eigenen Wahnsinnstaten begeilen können.